Früher hatten Großmütter zwei ungleiche Hände für das gleiche Ziel.
Das Ziel war, aus den Kindern und Kindeskindern gute, anständige Menschen zu machen. «Kusch kusch, sei anständig.»
Auch: «Kusch, sei still! Fall ja nicht auf! Fall niemals auf!»
Die eine Hand verfolgte das Ziel durch Schläge, die andere durch die Liebe. Bei einer normalen Großmutter griffen diese beiden Hände wild durcheinander, da kannte sich ein Enkelchen dann manchmal hinten und vorne nicht mehr aus. Oder es mochte keine der beiden Hände und nahm reißaus.
Meine Großmutter, hier nun schon anfänglich bekannt, hatte auch zwei Hände. Sie schlug damit nicht und verteilte auch keine Liebe, mir jedenfalls nicht. Sie hatte ihre Hände früh in den Schoß gelegt, hatte aufgegeben. Sie ließ wichtige Ziele einfach fahren. Auch mich als ein zu erziehendes Wesen hatte sie fahren lassen. Ich glaube, sie hatte gar nie ein Bewusstsein dafür, dass ich zu ihr offen war und mein Herz ihr zugeflogen wäre.
Schön, geschlagen hatte sie nicht. Darüber bin ich froh. Das mit der fehlenden Liebe oder, ein bisschen weniger hoch gegriffen, das mit der Zuwendung tat jedoch so weh wie Schläge.
Die alte Dame zeigte einfach keine Gefühle, keine Wut, keine Freude, einfach nichts – und das ist natürlich alles andere als «einfach». Und «natürlich» ist es selbstverständlich auch nicht.
Heute weiß ich, als sie mich damals stets so böse anschaute, war ihre Sehnsucht einzig der innigste Wunsch, dass ich, ihr Enkel, sie in den Schoß nehme und tröste. Das erwünschte sie sich von jedem Menschen, also auch von mir. Heute weiß ich, dass ihr Wunsch, wie absurd er auch klingt, aus der Sicht ihrer Biografie komplett berechtigt war.
Als kleines Kind und auch später kam ich nicht auf die Idee, sie in den Arm zu nehmen und aufzuheitern und ihr mein Herz zu schenken. Ich glaube nicht, dass ich sie beurteilt oder gar verurteilt hatte für ihr Benehmen. Das tun kleine Kinder doch nicht. Irgendwie nicht – und irgendwie doch. Sie hatte jedenfalls keinen guten Stand bei mir. Vielleicht weil ich Angst vor ihr hatte. Oder eben vielleicht doch auch deshalb, weil ich mich von ihr nicht getragen fühlte und dann in den Reflex verfiel (in einen durch ein Urteil generierten Reflex), dann brauche sie von mir auch nichts zu erwarten.
So geht Leben, normalerweise geht es ziemlich genau so, und dies so ziemlich von Anfang an. Eigentlich richtig Scheiße.
Lässt sich da denn wirklich nicht früh genug der Hebel umreißen?! – Ich bin, um Joseph Beuys zu zitieren, doch eigentlich permanent am Haupthebel, kann jederzeit rigoros den Schalter umlegen und beide Hände in Liebe tauchen, odrr…?!