Nietzsche – Mengia – Engadin

Am 6. Oktober 1888 kam Friedrich Nietzsche in Turin an.

Ende September war er vom Engadin aus gestartet. Sieben Jahre lang war er im Sommer im Engadin gewesen, im Herbst 1888 sah er es zum letzten Mal. 

Ende Novemer 1888 kam meine Urgroßmutter im Engadin auf die Welt. Obwohl es das Produkt meiner Einbildung ist, habe ich das Gehen und Abschiednehmen von Nietzsche und das Kommen und stille Begrüßen meiner Urgroßmutter Mengia immer als Staffelübergabe empfunden.

Nietzsche wurde 1888 wahnsinnig und wurde kurz nach der Jahreswende, geistig zusammengebrochen, über die Alpen in den Norden zurückgeführt. 

Meiner Urgroßmutter stand eine andere Form des Wahnsinns bevor. Sie lebte ihre ersten 20 Jahre im Engadin im Hardcore-Modus, bevor sie in die Surselva zog. 

Ich selbst habe früh und lange einen Bezug sowohl zu Nietsche als auch zur Urgroßmutter gehabt. Die Urgroßmutter lebte bis in die Mitte meiner eigenen Zwanzigerjahre, wir hatten also viel miteinander zu tun. In dieser Zeit las ich viel Nietzsche, was meiner Urgroßmutter missfiel, nicht wegen Nietzsche (den kannt sie nicht), sondern weil ich ihrer Überzeugung nach nicht Bücher lesen, sondern in den Wald arbeiten gehen sollte.

Auf die Engadiner Zeit meiner Urgroßmutter habe ich stets durch die Brille Nietzsches geguckt. Das ist selbstverständlich rein subjektiv, für mich hingegen war es absolut real und zwingend. 

Die Urgroßmutter arbeitete als junge Frau in Engadiner Hotels als Büglerin. 

Als ich selbst dann so alt war wie sie damals, arbeitete ich im Engadin als Caddymaster. 

Meine Erfahrungen mit Engadiner Hotels waren bestimmt leichter als die meiner Urgroßmutter, doch was gleich gewesen sein mag, ist, dass wir beide in jungen Jahren in noblen Hotels verkehrten, diese jedoch nur durch die Hintertüren kennengelernt hatten. Für das Personal waren ganz andere Türen vorgesehen als für die Gäste. Letztere bekamen leckeres Essen aus der gediegenen Küche, die kleinen Arbeiterinnen und Arbeiter hatten mit dem Rest Vorlieb zu nehmen, und der Rest, das war machmal das Wasser, in welchem die Kartoffeln für die Gäste gekocht wurden. 

Doch es gibt Wichtigeres im Leben als täglich gutes Essen.

Ich bekam von einem freundlichen Golfer, der sich eine neue Goldausrüstung kaufte, seine «alte» Ausrüstung, die noch wie neu war. Fortan ging ich am Morgen, bevor die Gäste kamen, auf die Runde – glücklich, allein mit der Natur, und mit einer eigenen Golfausrüstung.

Meiner Urgroßmutter von diesem Vergnügen zu erzählen wäre unpassend gewesen. Ich kam auch nie auf die Idee, es zu tun. Sie hätte über die mondäne Welt der Reichen geschimpft und ihren Urenkel für verloren gegeben. Sie hatte mich wegen meiner Vielleserie sowieso schon halb aufgegeben, da wollte ich ihr diesen letzten Dolchstoß ersparen.