Das Leben stemmen

Zu meiner Frage (siehe Eintrag vom 29. Oktober), warum die Hochzeitsgesellschaft den überdimensionierten Mantel der Großmutter fraglos hingenommen habe, bekam ich folgende Zeilen zugeschickt, für die ich herzlich danke und die ich nach Rücksprache mit dem Absender hier weiterleiten darf:
 
«Gerade in familiären Beziehungen fällt es oft schwer, die nötigen und befreienden Fragen zu stellen, die Fragen, die der Mantel bedecken, verstecken möchte? Ich könnte von zahlosen Fragen berichten, die nie gestellt wurden […]. Die vielen Mäntel des Schweigens. Mit […] habe ich in diesem Jahr begonnen, zu unserer Familie Fragen zu stellen. Es sind Fragen, die von einem Mantel, ja Schutzmantel bislang bedeckt worden sind. Es befreit, wenn man beginnt, diese Fragen zu bewegen. Lernen aber muss ich, beim Stellen der Fragen – beim Ablegen des Mantels – den Schmerz, der dabei aufsteigt, zuzulassen, ihn, so wie er ist, zu spüren, ohne dass der Mantel ihn wieder bedeckt. Mit dieser Empfindung habe ich diese Tagegedanken gelesen und die Großmutter mit ihrem Mantel auf dem Bild angeschaut.»
 
Als ich diese Zeilen las, kamen mir plötzlich Weihnachtslieder in den Sinn, in denen Maria und das Kindlein, das sie unter ihrem Mantel trug (es wird ein vielleicht nicht gerade von Schaben zerfresssener, aber doch eher schäbiger Mantel gewesen sein), verehrt werden. – Mein Großmutter hieß auch Maria, und manchmal, wenn sie nicht mehr konnte und sich wieder einmal selbst in die Klinik einwies, pflegte sie mit der Hand auf sich zu zeigen und zu sagen: «Wie es da drinnen aussieht, das weiß halt niemand, und ich kann es nicht aussprechen.»
 
Das Leben der Großmutter ist deshalb noch keine umgekehrte Weihnachtsgeschichte, dünkt mich, denn wie die andere Maria, die ihr Leben auf eine wunderbare Weise  gestemmt hat, so hat auch «unsere» Maria ihr Leben mit Würde (und wenig Glanz) gestemmt.