Freitod ist nicht Selbstmord

Beim klassischen Selbstmord wende ich meinen unüberbietbaren Vernichtungswillen gegen mich selbst. Mein Leben, das Wertvollste, was ich besitze, wird durch mich zerstört.

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Ich sollte gestern einen mir besonders nahen Menschen an einem bestimmten Bahnhof in Deutschland mit dem Auto abholen. Doch es kam niemand an. Denn beim Startbahnhof war im Umfeld dieses Menschen ein Unfall passiert. In seiner unmittelbaren Nähe war eine Person vor den einfahrenden ICE gesprungen. Die Umstehenden hatten die Flugbahn gesehen. Den Schrei gehört. Schockstarre. In Sekunden totales Chaos. Polizei. Martinshörner. Rennendes Bahnpersonal, das die wartenden Menschen vom Unfallort wegdrängte. Ärzte.

Die Person, die in den Tod gesprungen ist, hat hunderte andere Menschen verärgert, ihnen Angst und Wut eingejagt, ihnen den Tag versaut und ihre Einstellung zum Leben und zum Tod durcheinandergebracht.

Für einige Stunden war der große Bahnhof lahmgelegt. 

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Die Zerstörungsenergie des Täteropfers war einzig auf sich selbst gerichtet gewesen. Es hat sich damit begnügt, aus freiem Entschluss den eigenen Tod zu wählen, ohne weitere Zerstörung anrichten zu wollen. 

Ich dachte: Der Freitod dieses Verzweifelten ist dramatisch – ein Mörder war er glücklicherweise nicht…