Aus gegebenem Anlass sinne ich der Frage «Vorbild» hinterher. Sind Vorbilder eine gute Sache oder eher misslich?
Irgendwie gibt es wohl Argumente dafür und viele dagegen.
Wenn ich mich so benehmen will, dass andere in mir ein Vorbild sehen sollen, dürfte das in die Hosen gehen, und es wäre überheblich, ja Hybris.
Doch wäre es für kleine Kinder, vielleicht auch größere Kinder und sogar Jugendliche nicht wunderbar, wenn sie beispielsweise Großeltern hätten, in denen sie ein Vorbild sehen? Ein Vorbild der Ruhe, der Milde, der Abgewogenheit, des Humors, was weiß ich?
Und was können wir gegen jemanden haben, der oder die vorbildlich einkauft und bei der Abfallproduktion einen Bruchteil dessen anhäuft, was andere an Müll in der Gegend rumliegen lassen?
Ich es möglicherweise ein Problem, dass wir keine Vorbilder mehr vertragen und lieber in einer Cancel-Kultur leben, wo jede und jeder auf dem Schleudersitz hockt? Albert Schweitzer zum Beispiel, er gilt heute als weißer Chauvinist, denn es wurde bekannt, dass er Schwarze Neger genannt und sie manchmal sogar geschlagen haben soll. So jemand ist in unserer aufgeklärten, gerechtigkeitsfanatischen Gesellschaft unten durch. Oder Mahatma Gandhi – abgesehen davon, dass er mit seiner Friedensversessenheit heute im Westen sowieso abgekanzelt ist, hat er sich schon zu seinen Lebzeiten als Vorbild demontiert, denn er habe beispielsweise seinen alkoholsüchtigen Sohn verflucht und aus der Familie verdammt. – Tja, also auch er alles andere als ein Vorbild.
Vielleicht lassen wir Maya Angelou als Vorbild durch, für mich ist sie jedenfalls eins. Sie wurde als achtjähriges schwarzes Mädchen vergewaltigt – und von ihr gibt es Fotos als erwachsene und gerade auch alte Frau, auf denen sie so herzoffen lacht, als würde sie mit ihrer Lebensfreude die ganze Menschheit umarmen, auch dich und mich.
Wie auch immer, wir müssen uns nicht an Vorbildern aufhängen, natürlich nicht. Mir sind sie dennoch lieber als die Massen von Idolen und Ikonen, Crashladies und Mackern, denen heute Millionen ihre kleine eigene Wenigkeit hingebungsvoll opfern.

