Pferde fressen

Im ersten Lockdown lasen Berenike und ich Tolstois Werk Krieg und Frieden. Darin äußerte der oberste Befehlshaber des Russischen Heeres, Kutusov, früh, dass die ach so siegreichen Franzosen unter Napoleon noch ihr heiliges Wunder erleben würden. Unter Tränen sagte der alte Mann, Napoleons Soldaten würden bald ihre eigenen Pferde fressen, so elend werde es ihnen in diesem Krieg ergehen.

Und genau so war es, wenn wir Tolstoi Glauben schenken, was mir während des Lesens und Zuhörens leicht fiel. Wer, wie Lew Tolstoi, eine solche Liebe zu Pferden hat, konnte diesen Satz über Kutusov, der weinte, selber nur unter Tränen schreiben.

In der Weltliteratur ist mir etwas Ähnliches bei João Guimarães Rosa, dem Autor von Grande Sertão, noch einmal begegnet. Am Ende des langen Romans, wo sich die zwei Banditenbanden, um die es im Buch geht, in tödlicher Feindschaft einen Kampf liefern, ist die Gruppe mit Riobaldo, dem Helden des Romans, in einen Hinterhalt geraten, wo sie ausgehungert werden sollen. Doch die Banditen sind zäh wie Leder und ergeben sich nicht. Da hören sie nach einem tagelangen Kräftemessen, wie die anderen an die Koppel gehen, wo ihre Pferde stehen, und anfangen eins nach dem anderen langsam abzuknallen. Die Krieger im Hinterhalt weinen laut und verzweifelt und wälzen sich in ihrer Seelennot im Staub. Dass ihre Gegner diesen Schritt so lange nicht getan haben, zeigt, was für eine innige Beziehung diese verruchten Sertão-Menschen zu Pferden hatten, selbst zu denen ihrer Feinde.

Ob Kutusov in Krieg und Frieden oder die Leute um Riobaldo in Grande Sertão, die Kulturgeschichte der Menschheit und die der Pferde ist innigst miteinander verbunden. Auch heute noch übrigens, obwohl kein Land mehr mit Pferden in Kriege zieht.

Ach, da kommt mir noch ein ganz anderes Bild, es ist zu sehen in Wim Wenders Film über den weltberühmten brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado. Letzterer fotografiert Pferde, schön wie aus tausend und einer Nacht, die ein Scheich zurückgelassen hatte, weil rund um ihn herum Ölfelder angezündet worden waren und er vor seinen Feinden fliehen musste. Diese weißen Edelrosse standen da, allein, dem Tod geweiht, edelste Seelen in einer Feuer- Rauch- und Gestankhölle, und Salgado sieht sie für einen Augenblick hinter Rauchschwaden und hält ihre vollendeten Leiber und ihre lieblichen Augen mit der Kamera fest, bevor sie, elend und allein, in diesem Inferno einsam umkommen.

Viel Schatten haben Menschen über die Pferde gebracht. Und nun schau einem Pferd in die Augen, wie es dich liebevoll und versonnen anblickt und dabei das seine denkt, dieses übermenschlich verzeihnugserfüllte Seelenwesen!

Gruß