Absichtslosigkeit

Wie zielführend die Absichtslosigkeit doch eigentlich ist! Sie ist zielfrei und hat doch ein Ziel in sich. Wenn ich mich vor ihr verneige (Beuys: «Ich verneige mich vor den Begriffen»), stehe ich vor der Aufgabe, ein Ziel zu erfassen ohne es zu beschreiben. Das ist die Haltung der Wissenschaftlerin und des Wissenschaftlers: So auf ein Ziel hin forschen, dass dies mit Absichtslosigkeit geschieht, damit sich das Unerwartete, Einmalige, Niedagewesene auf Begriffe bringt.

Soweit die Trockenübung. Nun kommt der Nassteil. Mach mal diesen da auf Absichtslosigkeit im Alltag – beispielsweise bei einem kleinen Kind, das irgendwie anders tickt als du erwartest und verstehst. Schlecht tickt, sagst du viel zu schnell, gar nicht tickt, das ist ja der Wahnsinn, was da passiert, kann denn da niemand intervenieren, kann diesem verrückten (oder verwöhnten oder unnormalen, egiostischen, unerzogenen) Kind denn niemand die nötigen Bandagen anlegen?! Der Tisch ist gedeckt, alle setzen sich hin, nur dieses eine Kind nicht. Es umschleicht den mit lauter Leckereien beladenen Tisch, sucht mit Augen und Nase nach etwas Essbarem. Hat Augen wie ein Luchs, Nase wie ein scheues Wild. «Diesen Kuchen ess ich nicht.» «Dieses Brötchen schmeckt mir nicht.» «Diesen Aufstrich kenn ich nicht.» «Die Banane ist zu klein.» «Was ist das – nee, mag ich auch nicht.» Es hüpft, erinnert an einen Schmetterling, der Nahrung sucht und immer nur Nahrung sucht und sich nirgends hinsetzt.

Was geht da vor? Wer spricht da so? Im Kind? In mir? Hat sich das Kind nicht schon lange auf dieses Essen gefreut? Oh, wie gut, wenn  Absichtslosigkeit und echtes Fragen ein solches Geschehen begleiten und nicht Zeigefinger und vermeintliches Wissen. Lasst die Kinder, sagte der große Rechtsgelehrte Montesquieu, lasst sie die Sprache selber lernen, das Denken, das Essen, das Laufen, das Sein, das Spielen, ja, lasst sie spielen, lasst die Kinder spielen, mit allem, was ihnen ihre Existenz vor die Sinne und Gedanken bringt.

Es ist nicht deine Aufgabe, zu wissen, was das Kind muss, darf, soll, nicht muss nicht darf nicht soll. Wenn du den Zeigefinger auf das Verhalten des Kindes richtest, richtest du drei Finger gegen dich.

Diese Geste hat auch die Bezeichnung ‹Schießgeste›: Ein Finger zielt auf das Gegenüber, die drei eingezogenen Finger gegen den Zeigenden selbst.

Ich erlebe, dass ich, wenn ich so schreibe, in der Gefahr stehe, mit dem Zeigefinger auf meine Leser zu zeigen. Will ich nicht und tue ich nicht, denn ich habe genug damit zu tun, beim oben geschilderten Essen meine Freude zu bewahren, nicht am Kind rumzumachen, auch nicht in Gedanken, sondern beim Essen zu verweilen. Und mein Vertrauen zu bewahren, indem ich der Absichtslosigkeit meine Referenz erweise.

Schwer für Erwachsene, aber möglich, sagt,

herzlich grüßend