Augen auf unscharf

Auf einer schwarz weißen Postkarte liegt links im Bild ein kleines Kind gemütlich auf dem Boden und betrachtet einen kleinen Igel, der im rechten Bild zu sehen ist. Er steht still, zeigt ein riesiges Stachelkleid (eine Art Igel-Kindchenschema) und man sieht sowohl seine zarten Füßchen als auch sein spitzes Gesicht und die Augen. Der Igel ist zutraulich, das Kind, ein Mädchen, lag vermutlich schon so lange in dieser gemütlichen Position ohne sich zu bewegen, dass das Igelgesicht mutig unter den Stacheln hervorschauen kann, ohne sich über irgendwas zu fürchten.

Zwei Dinge gibt die Postkarte wieder, einmal, dass die beiden aneinander interessiert sind, dann, dass sie ihr Interesse nicht durch Blickkontakt bekunden. Zwar guckt das Mädchen in Richtung Igel und interessiert sich für ihn – und der Igel schaut dorthin, wo das Mädchen, sagen wir lieber: wo das Wesen des Mädchens ist, auch er ist interessiert, doch beide meiden den Direktblick.

Das ist die Mehr-Als-Menschliche-Welt oder der Mehr-als-Intelligente-Blick. So schaut auf Rembrandts Spätwerk Jakobssegen der von der Situation überforderte Joseph. Tiere und Kinder gehen mit diesem unscharf präzisen Blick durch die Welt, sie sehen genau hin, aber ihr Blick ist auf unscharf gestellt, dadurch sehen sie mehr als die meisten Erwachsenen, die vor lauter Scharfguckens die Dinge vor ihren Augen vertreiben wie die Jäger mit ihren Flinten die Viecher vor dem Visier verscheuchen.

Joseph hatte eine schwere Lebensschulung hinter sich, deshalb konnte er auch so schauen. Das war eine Lebensschule des Schmerzes. Blicke wie seiner auf dem Rembrandtgemälde, das hier in Kassel im Schloss Wilhelmshöhe hängt, sind die späten Rosen einer solchen Lebenesschule. Wunderbar. Sie erinnern an die Kunst der Kinder, an den Blick dieses kleinen Mädchens und des kleinen Igels, die sich auf der Postkarte gegenseitig so erhaben angstfrei ins Herz geschlossen haben.

Mit Grüßen