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Scarlatti

Kennst du Scarlatti? Der Name ist bekannt, klar, doch über den Menschen Scarlatt weiß man fast nichts. Mit ihm ist es wie mit unserer Milz. Ein Professor bat den Medizinstudenten bei der mündlichen Prüfung: «Erklären Sie mir die Funktion der Milz?» Der Student antwortete: «Ach, heute morgen habe ich es noch gewusst!» – «Schade, dass sie es vergessen haben. Sie wären der erste gewesen, der es gewusst hätte.»

Scarlatti und die Milz sind großartige Phänomene, er für die Musik, sie für den menschlichen Organismus. 

Giuseppe Domenico Scarlatti (1685-1757)

Auf Portugiesisch hieß er: Domingo Escarlate. Sein spanischer Name lautete: Domingo Escarlatti.

Aufgewachsen ist Scarlatti in Neapel! Seine Musik umfasst die meditterane Welt zwischen Portugal, Spanien und Süditalien. Sie singt von ihrer Schönheit in Form von Landschaften und Seelenbewegungen. Scarlatti skizzierte diese Welt der Abgründe und Gegensätze in der Musik, Elena Ferrante skizzierte sie in der Literatur. Was für Schätze!

Ich höre Scarlattis 500 Sonaten für Cembalo in der Einspielung von Scott Ross, einem verrückten, an Aids verstorbenen genialen Cembalisten, der diese bewegenden Sonaten komplett auf Youtube hochgeladen hat – sie haben eine Gesamtspieldauer von über 30 Zeitstunden. 

Wenn ich nichts anderes mehr vertrage (was oft vorkommt), lasse ich diese Musik in Endlosschlaufe durch mein Gemüt pulsieren. 

…ganz ganz schwach

KI auf den Begriff «Großmutter» befragt, macht einen ganz ganz schwachen Eindruck! 

Eine Großmutter gehöre zur älteren Generation der Familie und sei die weibliche Form von Großvater.

Toll, wirklich. Und dann sagt KI, jede Mutter habe eine Mutter, das ist dann meine Großmutter. Und jeder Vater habe ebenfalls eine Mutter, die ebenfalls wieder meine Großmutter sei. Es gebe also mütterliche Großmütter und väterliche Großmütter.

Und laut KI sagt man zur Großmutter im Alltag auch Oma.

Wohlan, das ist dann also meine Oma: 

Zum Glück gibt es auch noch eine Wenigkeit wie mich, die ich so viel mehr über die Großmutter weiß als KI, die, wie mir immer wieder gesagt wird, alles viel besser wisse als wir Menschen es wüssten. 

Oh wenn KI wüsste, was ich inzwischen alles über meine Großmutter weiß. 

Ich wechsle zur italienischen Oper – sie vermag einen weit tieferen Blick auf meine Großmutter freizulegen: Meine Großmutter war ein Abgrund, so etwas wie die Hauptgestalt in einem Dostojewski-Roman. In ihr vereinigten sich Wärme und Kälte, Schwarz und Weiß, Heilige und Gefallene, Jägerin und Gejagte, Mutter und schwarze Witwe, Euphorie und Depression, Freiheit und Sucht. Und das alles in einem stürmisch schlagenden Herzen.

Und das ist erst der Anfang.

Dieser Anfang soll für dem Moment genügen, 

herzlich   

Dr‘ Härbschtziit (zua)loosa

Es ist die Zeit der über die Wiesen stelzenden Herbstzeitlosen.

Keine Jahreszeit ist so sehr eine Ohnezeit wie der Herbst.

Herbst, du das Zeitliche segnendes Geschehen

mit deinen zeitlosen – herbstzeitlosen – Blumen.

 

Im Herbst auf den Berg gehen

und dabei vor sich hersinnen,

bis die Zeit stehenbleibt und

irgendwann weggegangen ist

und danach verschwunden bleibt.

 

Es gibt eine Dialektvariante für Herbstzeitlosen: der Herbstzeit lauschen, ihr sich hingeben: D‘ Härbschtziit loosa, bessr gsait: zualoosa ❤️

Hilde Domins Kurzgedicht: «Es knospt unter den Blättern, das nennen sie Herbst.» – Sie, die anderen, die Dumpfen, reden von Herbst, wo es knospt…

Fallen in herbstzeitlose Gedanken, während es unter den Blättern wild hergeht wie sonst nie, weil sich das Leben auf den nächsten Frühling vorbereitet. Er ist schon da, der kommende Frühling, eingehüllt in das warme Feuergeschehen herbstlichen Verglühens.

Der kommende Winter kann dem darauffolgenden Frühling nichts mehr antun, denn, tuand äbanaifach luaga und loosa, wias asoo uu huara lebendig tuat im Härbscht.

Maya

Selbst wenn ich es wollte, könnte ich die einzelnen Personen auf diesem Foto nicht mehr nach ihrer Einwilligung zur Abbildung fragen – sie leben nicht mehr, bis auf das Mädchen in der ersten Reihe rechts, es ist inzwischen eine 95-jährige heitere Dame im Seniorenheim. 

Ich erlaube mir also, das Gruppenfoto zu zeigen; ich nutze es nicht zu kommerziellen Zwecken, wohlan drum sei es:

Die Abgebildeten sind zwischen 1880 und 1930 geboren. Mich interessiert jedes dieser Gesichter, doch ein Gesicht interessiert mich besonders. Nennen wir die darauf Abgebildete ihrem Wesen nach Maya

Maya hatte bei Fototerminen die Angewohnheit, entweder weit hinten im Bild und möglichst unscheinbar sozusagen geradezu zu verschwinden. Oder – das zeige ich später einmal – sie stellte sich ganz in den Vordergrund in sichtlich auffälliger Kleidung.

Gleich ob ganz hinten oder ganz vorne, sie fühlte sich anscheinend unwohl bei solchen Terminen und wäre am liebsten gar nicht erst erschienen oder bis zum letzten Moment aus dem sie beengenden Setting rausgesprungen. Maya war eine Wilde!

Bei diesem Foto hatte sie die Variante eins gewählt: ganz hinten und möglichst unsichtbar und mit Abstand am weitesten vom Fotograf entfernt.

Wenn ich nur dies von ihr geerbt hätte, hm… auch ich versteckte mich bei unseren Familienfotos im Hintergrund. Oder, wenn es sein musst, tat ich genau wie Maya und posierte beispielsweise in weißen Handschuhen (keine Anspielung auf Peter Handke) vorn in der Mitte – dazu gibt es ein Foto aus der Grundschulzeit.

Nun, hätte ich nichts anderes von Maya, wie ich hier meine Großmutter nenne, geerbt, wohlan, dann würde ich nicht auf die Idee gekommen sein, hier über sie zu schreiben. 

Gruß