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Lange schon sichtlich europamüde

Kaum zu glauben, dass ich untenstehende Zeilen vor 25 Jahren geschrieben habe. Mein damaliger Blick auf Europa hat Ähnlichkeit mit dem heutiger Menschen, die so was von ernüchtert und müde in betreffs Europa geworden sind, dass es weh tut wie ein Körper nach eine schlecht vorbereiteten Ironmanchallenge. Die Zeilen bilden das Lesematerial für den 23. NOVALIS-Clip. Mir gefallen sie über die Maßen, auch wenn ich nicht nachvollziehen kann, wie ich dazu kam, sie niederzuschreiben. Es ist der 60. Tag von 365 Tagen mit NOVALIS, ich notierte den Eintrag am 1.3.2001 in Kassel:

«‹Bildung des Geistes ist Mitbildung des Weltgeistes – und also Religion. Der Geist aber wird durch die Seele gebildet – denn die Seele ist nichts als gebundener, gehemmter, consonirter Geist› (Brouillon, Nr. 407) und also, siehe ebenda, ‹indirekct religiöse Pflicht (Kinderreligion, Kindermoral etc.).›
Es muss alles Poesie werden, sie bildet und beseelt und begeistert. Und: ‹Der Poët versteht die Natur besser wie der wissenschaftliche Kopf› (ebenda, Nr. 1093).

Ist das hier denn Bildung zum Weltgeist? Viel, und oft und oft will mir scheinen: alles steht zur Disposition – nur nicht, ob ich ins Paradies der ‹Poësie› eintreten wollte oder nicht.
Verdunkelt und verschlossen sind die Räume, die Kiste ist zu. Eine Sargsituation hat sich über Europa gelegt, mit Nachdruck und mit Gewicht, mit Kälte und abgekühlter Berechnung, wie es scheint. Andererseits sind Kisten und Büchsen geöffnet, jeder Mensch eine moderne Pandora, in der Selbstverschätzung, dass Giftschränke ein kurzweiliger Zeitvertreib seien, reden sie (wir) über alles, machen die unaussprechlichsten Dinge zum Salongeplauder, erheben überall und zu jeder Zeit das laute Wort, bringen ihr Gedachtes mit Werve ins Bild, ein angenehmer Kitzel, verwalteter Horror.
Abgenabelt vielleicht sind die Dinge von uns und wir damit von ihnen. Statt dass Lockerung und Öffnung für Geist und Welt, aus denen neuer Geist sich bildet, versucht wird, kommt etablierte Verhärtetheit zum Zug, und locker und gekonnt wirkt sie daher, die Menschen tun so rum, s’hat eine Art.
Abgenabelt, die Kiste ist zu, und das Wort in seine Beliebigkeit entlassen.

Als das Fehlen von Poësie als Verlust bemerkt wurde, als sich über die Hässlichkeit in Welt und Mensch Schmerz und Sehnsucht nach Veränderung darlebte, bewirkte der Poësieverlust das Validum Poësiae. Durch die Abnabelung, durch die gekappte Schnur ist die Sehnsucht weg, weg ist das Bild einer (zeitweiligen) Rückkehr. Dass das verständliche Mysterium ‚Wort‘ vernutzt, dass dem Schutz vor Taten und Bildern, Körpern und Körperberuhigungen, die Verschließung derselben folgte, mag uns in ihren vergewaltigenden Auswirkungen aufstoßen, die Herde der Entzweiung und Abnabelung bleiben uns dabei fremd. Denn: in der poësielosen Welt lebt es sich besser, in mancherlei Hinsicht.»

Krieg und Liebe

Ich sitze gerade über den Druckfahnen meines neuen Buches mit dem Titel:

Die beiden haben sich ineinander verliebt und planen einen gemeinsamen Heimaturlaub für Weihnachten 1942, was extrem schwierig ist. Doch es gelingt und sie sind einige Tage zusammen in Deutschland, wo sie sich verloben. Dann reißt der Krieg sie für immer auseinander, Hermann bleibt als Kriegsversehrter in Berlin zurück, sie muss als Krankenschwester zurück an die Front nach Russland. 

In diesen Tage schickt er ihr das folgende Gedicht hinterher:

Mädchen im Winter, Mädchen im Schnee! Mädchen, der Winter tut mir gar weh. Rosen und Ranken, die grünen nicht mehr: All unterm Himmel ist’s öde und leer. Nur am Herzen, da springet mir zag noch eine Rose im Wintertag.

Mädchen, die Rose blühet und sticht. Mädchen, mein Herz gedenket und bricht.
Sei nicht mehr gram! Komm, geh mit mir; wir gehen durch den Abend, es ist ganz still und dunkel vor der Tür – du wirst es sehn, ich nehme deine Hand, dass du nicht fällst und Schmerzen hättest an deinem Fuß.

Geh leis: wie blickt der Mond so gut!  Der große Mond, und alles hat ein Leben – gib acht, hier liegt ein Stein.  Er schläft; stoß nicht daran, Wir wollen niemand wecken!

Es tut uns allen weh, wenn wir aus unseren Tiefen müssen – wir wollen nicht sprechen; sieh, schon schweige ich, denn deine Hand liegt nun in meinem Herzen … Ich hab es so gedacht; wie schön, da es gekommen ist. Bist du so müd? Verzeih – ich lege meinen Arm an deine Schulter; so ist nun alles gut. Was sagt dein Mund? Nichts, nichts; dein Auge schließt sich nur –  wie bin ich froh, Dass du bald schlafen kannst!

Bald nach dieser Episode – die deshalb eine «Episode» blieb, weil der Krieg kein Verständnis für Liebende hat – kommt Hermann Kükelhaus mit 23 Jahren um sein Leben.

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