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Superspar Urlaub

Durch das Heute zurück ins Gestern und von hinten durch die Schulter ins Auge

In den letzten Tagen bin ich viel in D herumgekommen. Im Zug. Grund für Lamento? Nur weil kein einziger der Züge pünktlich war? Weder am Start noch unterwegs pünktlich? Keiner, aber schon wirklich keiner?

Kein Grundl, obwhl der eine noch nicht einmal startete, beziehungsweise erst eine Stunde später als geplant – die ersten fidelen Gäste im Speisewagen hatten schon ihr drittes Bier im Bauch, als es unverhoffter Dinge plötzlich losging. Ich war dabei, wir hatten eine Bombenferienstimmung, noch bevor die ersten hundert Meter im Bahnhof genommen waren. 

Ich freue mich auch jedesmal riesig auf die Erklärungen, warum ein Zug nicht kam («Komplettausfall wegen Bauarbeiten im Ausland») oder am Startbahnhof nicht losfuhr («wegen verhinderter Vorleistung des Zuges» – will sagen, der Zug kam zu spät im Sackbahnhof an und startete entsprechend zu spät).

Früher musste man in mediterrane Länder reisen oder nach Bolivien oder Südostasien, um zu erleben, wie überall auf Straßen oder Schienen gefeiert und gelacht und getrunken und wildfremden Leuten das Gepäck über den Schotter geschleppt wird, weil die einen schlapp machen und die anderen noch locker können und alle einander irgendwie liebgewinnen. Jetzt kriegst du das zum Supersparpreis quasi geschenkt.

Früher stand D noch im (langweiligen) Ruf eines Landes mit pünktlichen Zügen und einer gut funktionierenden Post. Das war dröge. Doch D hat sich richtig gemausert, seit es nicht mehr in allen Disziplinen des Forschritts überall ganz vorne und überhaupt in allem Weltmeister sein will. 

Superspartickets ohne Rückgabemöglichkeit, das sind die vielversprechendsten Abenteuer. Alles rund um diese Tickets ist pures Improvisieren. Manchmal weißt du nicht einmal, wo du übernachten wirst. Deshalb vorzugsweise die letzte Zugverbindung des Tages buchen. Gestern von Salzburg nach Kassel bin ich sogar wegen Zugtotalausfall vorerst in eine ganz andere, entgegengesetzte Richtung gestartet und habe erst langsam ans Nachhausefahren gedacht.

Schön, wie die Schaffner und Schaffnerinnen reagierten, wenn ich ihnen das Tiket mit meiner Bahnbindung zeigte. Ihr »Sie sind aber im falschen Zug und fahren in die falsche Richtung» änderte sich nach meinen Erläuterungen schnell in ein «ah, ich sehe, Sie wissen, was Sie wollen», garniert mit Augenzwinkern und Eingeweihtenlächeln. 

Ich hatte eigentlich nicht mehr vor, in diesem Leben nochmals den Tourist zu geben. Die Erfindung des ICE und dieses Phantom des deutschen Zugfahrplanes, der manchmal selbst auf den Anzeigetafeln Fiktion ist, lässt jedoch, selbst bei mir, Suchtpotential aufkommen.

Wie immer?

War es wie immer? Eigentlich schon, wobei Kulturveranstaltungen ja eigentlich nie so sein sollten, dass man denkt: «Wie immer.»

Jedenfalls war es ein bedächtiger Abend, alles lief wie geplant. Das Publikum war dezent gekleidet und auf den tieferen Sinn der Veranstaltung eingestellt. Es hatte einen inneren Draht zum Datum des 9. November, der nicht nur in Deutschland, sondern auch in Salzburg in die Geschichte eingegangen ist. 

In dieser barocken Kirche mitten in der Altstadt fand eine Gedenkfeier zum Beginn der Novemberpogrome von 1938 statt.

Teil I war beim Stolperstein für Walter Schwarz – er war das erste Mordopfer des Nationalsozialismus in Salzburg, Teil II war dann in der Barockkirche: ein jüdisches Gebet, Gedichte und Kantatenmusik von BachWerkVokal.

Dass während einer interreligiösen Veranstaltung ein Kaddisch, dieses zentrale Gebet im Judentum zur Bewältigung von Trauer, durchgeführt wurde, erntete auch Kritik, und dies von verschiedenen Seiten, doch ich freue mich, mir ungefragt erlauben zu wollen, diese Kritik unausgeführt zu lassen, weil für ich anderes ins Gewicht fiel an diesem Abend. 

So gesehen muss oben im Titel das Fragzeichen weg, denn, ja, es war wie immer, es waren da Menschen, die miteinander ein Einvernehmen hatten, das durch ihre privaten Haltungen nicht beeinträchtigt war. Wer dabei war, erlebte menschliche Wärme. Und von außen gab es ideologische Kommentare, natürlich von Leuten, die nicht dabei waren und die Wärme, die eine solche Veranstaltung vermittelt, durch ihre Kälte garnierten, die in ihrem Inneren gegen sie selbst zu Felde zog. Wieso sich aus dem Fenster lehnen und darüber viele Worte verlieren.

 

 

Alles kontrovers

Heute war in Salzburg die Uraufführung DIE VERWESUNG VON HANS PFITZNER von der Kammeroper Salzburg. Es ist eine klare Stellungnahme und präsentiert den Komponisten in seiner klar erkennbaren Verstricktheit mit dem Naziregime. 

Ich denke, diese beiden Fotos von ihm sagen mehr als viele Stellungnahmen für oder gegen diesen umstrittenen Mann. Sein Blick ist derart misanthropisch, giftig, missmutig und misstrauisch und eng und weiß nicht was alles. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Mensch eins oder sogar beide dieser Bilder für sympathisch, groß, weit (wie seine Musik es durchaus ist) halten kann. 

Am heutigen Abend haben mich einige seiner Aussagen, die in die Musik hinein über Lautsprecher kraftvoll in den Saal gesprochen wurden, erschüttert. Sie geben wenig Spielraum für Interpretationen, so scheint es, und er kann nichts anderes als voll auf Nazikurs gewesen sein. – Doch die Forschung präsentiert ein anderes Bild, und schon sind wir im Schlamassel, wie es heute an allen Ecken und Enden aufflammt, wenn gewisse Namen genannt werden. 

Ich lasse es so stehen und habe keine Furcht, dies hier so zu sagen. 

Was ich hingegen mitnehme und zwar als ein großes Rätsel: Pfitzner, dieser extrem gebildete, künstlerisch hervorragende Mensch hatte eine persöndliche Begegnung mit Adolf Hitler. Diese muss seine Persönlichkeit extrem verändert haben. Was war da? Ich halte die Frage für nicht nur berechtigt, sondern auch wichtig. Wie konnten solche Menschen durch die Begegnung mit Hitler so bewegt sein? – Ich erinnere hier an ein Telefonat, das ich mit Rolf Hochhuth zwei Jahre vor seinem Tod hatte. Er kam auch Hitler zu sprechen und sagte, was heißt «sagte», er schrie es buchstäbldich in die Hörmuschel, nämlich: «Wir haben damals alle Hitler geliebt.» Wörtlich: «WIR HABEN DAMALS ALLE HITLER GELIEBT.» In dieses Wir schloss er auch Pfitzner mit ein. So einfach, wenn für uns heute auch komplett unverständlich war das.

Was für eine Glanzleistung wäre es, diese Aussage von Hochhuth nicht zu verwerfen oder anderweitig zu kommentieren, sondern wievon weit außen als sozusagen stiller Betrachter oder stille Betrachterin aus sich ruhen lassen und das eigene Leben in Fragehaltung dazu zu gestalten. 

Keine Ahnung, ob das, was ich damit sagen will, verständlich ist. Wenn nicht, bitte melden, dann versuche ich es mit anderen Worten nochmals 🔦

Herausforderungen

Das Buch von Annemarie von Matt, aus dem ich gestern zitiert habe, birgt noch viele Schätze. Ich habe es zu Hause liegen und werde später auf es zurückkommen.

Heute bin ich in Salzburg. Auf einem Spielplatz sah ich von weitem diesen Sandkasten. Ist das eine Form von Wohlstandsverwahrlosung? Oder ist es Sinnbild für ein zukünftiges, hier schon gegenwärtiges urbanes Common?

So oder so, es kann jedes Kind ohne Sandelspielzeug in den Ring treten und im großen Stil und aus den Vollen drauflosspielen. 

Später saß ich an einer Bushaltestelle und wartete auf den Bus. Da kommt ein gut gekleideter Junge von etwa sechs Jahren auf mich zu, mit seinem Schulranzen auf dem Rücken. Etwas entfernt von uns wartet eine Mitschülerin auf ihn. Er tritt zu mir, als wäre ich ein lieber Onkel oder sein Großvater, und fragt in vertraulichem Ton. «Gibst du mir Geld?» – «Bist du wahnisnnig», sage ich, «wofür brauchst du Geld von mir?!» – «Ich will etwas kaufen.» – «Deine Eltern geben dir doch, was du brauchst», sage ich, «ich gebe dir kein Geld, tschüss.» 

Der Junge sagt «ja« und verabschiedet sich freundlich.

Musste er vor dem Mädchen glänzen? Aus dem Stegreif ein Geschenk für sie kaufen? Machte er das mit anderen Leuten auch so wie mit mir? Hatte er da mehr Erfolg?

Salzburg, wie tickst du? Liegst du, schöne Stadt, schon so weit im Osten, dass ich deinen Alltag nicht mehr verstehe?!

Hm, mal sehen, was mir morgen so alles passieren wird.

Gruß   

Anders reden

Gestern auf dem Nachhauseweg nahm ich noch ein Buch aus einer öffentlichen Buchkiste mit. Kennst du die Autorin? Ich habe sie nicht gekannt, doch schon voll in mein Herz geschlossen.

Auf S. 169 schreibt sie: «Der Weg von mir zu Dir ist ein Lied für Dich, ist voller Lieder zu Dir am Weg zu mir, sind Lieder für Dich am Weg zu mir, sind immerwährende Lieder für Dich VON DIR. Der Weg zu mir singt immerwährend Deinen Namen. Der Weg zu mir hat Deinen Namen vergeblich (nutzlos) gesungen. Der Weg von Dir zu mir hat sich am Lied für Dich ermüdet.»

Oder S. 138: «Du regnest siegreich Löcher in meine Seele – wieder bete ich dem Engel in Not.»

Und noch eins, S. 124: «Ich liebe Rätsel und rätselvolle Menschen, das Liebste aber ist mir stets, im Geheimnisvollen gründlich zu stöbern, es in verschiedenen Lichtern nahe zu bestaunen.»

Das Buch ist eine Fundgrube, die Texte hat Annemarie von Matt in den 1940er Jahren auf lose Zettel geschrieben. 

Und dann das unverfänglichste Liebesgedicht, das es geben kann. Auf S.110 ist ein leerer Notizzettel abgedruckt, auf dem die Dichterin einzig das Wort «Liebesbrief» hinschrieb – den Rest behält sie, zum Nutzen und zum Schaden der Beteiligten, ganz für sich. Schrecklich, was Frauen so alles einfällt, solange die Sonne über ihnen scheint:

Das Bild ist verschwommen, der Inhalt selbst jedoch tief wie der Grund des Marianengrabens 12.000 Meter unter dem Meeresspiegel. – Der Kreis um den Zettel drumherum ist mein Beiwerk, um die Bedeutung des Gedichts unnötig hervorzuheben,

bis bald

 

 

1995 ist eine Ewigkeit her

Dichterin und Menschenrechtlerin Maya Angelou

Vor 30 Jahren trug Maya Angelou zum 50-jährigen Jubiläum der Vereinten Nationen ein Gedicht über Krieg und Frieden und über ein Erwachen der Menschheit zu einer höheren Wahrheit vor. In diesem Gedicht träumte sie davon, dass weltweit die Gewehre von den Schultern fallen gelassen
 werden und Kinder ihren Puppen Fahnen anheften, die zum Waffenstillstand einladen. Sie träumte davon, dass auf der ganzen Welt die Landminen des Todes entfernt werden und Alte, Frauen und Kinder – und natürlich auch ganz normale Männer – ihre «Abende des Friedens» erleben.

Und sie erlaubte sich die Behauptung, «dass das größte Wunder der Welt der Mensch selbst ist, wenn er endlich in Frieden lebt.»

Gestern hörte ich im Radio, dass ein nahmhafter deutscher Politiker die zur Zeit diskutierte Loswahl zur Aufstockung deutscher Soldatenkontingente aus dem einen Grund in Frage stellte, weil es ja doch wohl passieren könnte, dass auch «Ungeeignete» ein Los ziehen würden. 

Wer aber ist geeignet und wer ungeeignet? Eugen Drewermann (*1940), der deutsche Theologe, Psychotherapeut und suspendierte katholische Priester hat darauf eine klare Antwort parat – ich muss sie nicht darstellen, sie liegt auf der Hand, wenn wir uns zu Gemüte führen, mit welchen Lebensimpulsen kleine Kinder auf die Welt kommen.

Das Leben stemmen

Zu meiner Frage (siehe Eintrag vom 29. Oktober), warum die Hochzeitsgesellschaft den überdimensionierten Mantel der Großmutter fraglos hingenommen habe, bekam ich folgende Zeilen zugeschickt, für die ich herzlich danke und die ich nach Rücksprache mit dem Absender hier weiterleiten darf:
 
«Gerade in familiären Beziehungen fällt es oft schwer, die nötigen und befreienden Fragen zu stellen, die Fragen, die der Mantel bedecken, verstecken möchte? Ich könnte von zahlosen Fragen berichten, die nie gestellt wurden […]. Die vielen Mäntel des Schweigens. Mit […] habe ich in diesem Jahr begonnen, zu unserer Familie Fragen zu stellen. Es sind Fragen, die von einem Mantel, ja Schutzmantel bislang bedeckt worden sind. Es befreit, wenn man beginnt, diese Fragen zu bewegen. Lernen aber muss ich, beim Stellen der Fragen – beim Ablegen des Mantels – den Schmerz, der dabei aufsteigt, zuzulassen, ihn, so wie er ist, zu spüren, ohne dass der Mantel ihn wieder bedeckt. Mit dieser Empfindung habe ich diese Tagegedanken gelesen und die Großmutter mit ihrem Mantel auf dem Bild angeschaut.»
 
Als ich diese Zeilen las, kamen mir plötzlich Weihnachtslieder in den Sinn, in denen Maria und das Kindlein, das sie unter ihrem Mantel trug (es wird ein vielleicht nicht gerade von Schaben zerfresssener, aber doch eher schäbiger Mantel gewesen sein), verehrt werden. – Mein Großmutter hieß auch Maria, und manchmal, wenn sie nicht mehr konnte und sich wieder einmal selbst in die Klinik einwies, pflegte sie mit der Hand auf sich zu zeigen und zu sagen: «Wie es da drinnen aussieht, das weiß halt niemand, und ich kann es nicht aussprechen.»
 
Das Leben der Großmutter ist deshalb noch keine umgekehrte Weihnachtsgeschichte, dünkt mich, denn wie die andere Maria, die ihr Leben auf eine wunderbare Weise  gestemmt hat, so hat auch «unsere» Maria ihr Leben mit Würde (und wenig Glanz) gestemmt.
 

Feier mit Mantel

Für manche Kulturikonen ist der Mantel ein Vehikel für ihre Bedeutung. Der Feldherr Napoleon und sein grauer Soldatenmantel, der englische Politiker (ich bin nahe dran, ihn auch Feldherr zu nennen) Winston Churchill mit wehendem Mantel und wehendem Hut, die Hermelinmäntel der Männervernascherin Katharina die Große. 

Alle diese Mäntel meine ich hier genau nicht – stattdessen bin ich wieder bei meiner Großmutter:


 

Die anderen Frauen trugen bei dieser Hochzeit schöne Kleider und Trachten, die Großmutter diesen Mantel. Und zog ihn nicht aus, bis die Feier vorbei war. 

Als ich kürzlich meine uralte Mutter fragte, warum bei ihrer Hochzeit (siehe Bilder) die Großmutter ohne ihren Mann und ohne ihre vier Töchter gekommen sei, wusste sie, die sonst alles erinnert, keine Antwort.

Großmutters Mantel bei dieser Feier war mit Sicherheit für alle Anwesenden sprechend. Doch hat sich auch nur eine oder einer von ihnen die Frage gestellt, wieso sie in diesem Kleidungsstück gekommen war? Ich glaube nicht…

Mit dieser simplen Feststellung, die vielleicht auch nur eine Vermutung ist, bin ich bei einem riesigen allgemeinen Kulturproblem angekommen, es lautet:

WARUM HABEN MENSCHEN SO WENIG FRAGEN?!!