Ungleiche Freuden

Die Schwester ist die ältere der beiden, etwa fünf und stolze (und verdorbene) Kindergärtnerin. Das Brüderchen ist zwei und lebt noch vollkommen im Goldenen Zeitalter der frühen Kindheit.

Wir beobachteten, wie der Großvater, der bei Nachbars über die Ostertage zu Besuch war, am Morgen, nicht früh, aber früher als die Kinder draußen waren, Ostereier, Schokoeier und zwei goldverpackte Lindthasen im Garten versteckte. Danach kam die Schwester rausgerannt und begann mit der Suche. Sie kannte sich gut aus, rannte hierhin und dorthin und fand schon ziemlich gleich einen der beiden Lindthasen, legte ihn in den Sammelkorb, wo schon einiges an bunten Eiern und Zuckerzeugs lag. Dann kam Brüderchen raus, geblendet vom besonderen Morgen, in Osterlicht getaucht. Er blieb an der Tür zum Garten stehen und staunte.

Schwester kam angerannt. Sie hatte inzwischen den zweiten Hasen gefunden, übergab ihn Brüderchen. «Für dich», rief sie und eilte zurück auf die Wiese und suchte zwischen Büschen und Blumen die letzten Reste der Osterbescherung.

Brüderchen blieb stehen, staunte den Goldhasen an und stand und staunte und stand.

Der Großvater, der im Haus einen Kaffee getrunken hatte, kam wieder ins Freie. Klug wie die Erwachsenen halt so sind, hatte er noch ein paar bemalte Eier und zwei Jackentaschen voller Zuckereier dabei. Er ließ die Sachen unauffällig neben sich in den Boden gleiten. Schwester sammelte sie sofort in ihren Korb. Großvater wartete und als er mit dem Brüderchen für einen Moment allein war, ließ es wieder etwas fallen. Brüderchen bekam davon nichts mit, staunte und stand. Großvater bückte sich, hob demonstrativ ein Ei vom Boden auf, zeigte es noch demonstrativer dem Zweijährigen und sagte: «Schau, für dich. Osterei.»

Brüderchen schaute immer nur auf seinen Hasen, der unter seinen Augen immer größer und leuchtender und goldiger wurde. Ein Osterwunder. Das Bübchen konnte keine seiner beiden Patschhändchen freibekommen. Es hielt den Hasen und war Hasenbruder und Hans im Glück ohne Reibungsverluste. Natürlich war er glücklich, sein Glück war gar nicht vergleichbar mit dem der Schwester, denn ihr Glück war Teil eines Optimierungsvorgangs mit offenem Ende, während das Glück des kleinen Knaben so vollkommen war wie es seine Weltanschauung war. Es war die Weltanschauung des Staunens.

Nachösterlichen Gruß