Die Wand

Marlen Haushofers Roman Die Wand ist 2012 mit Martina Gedeck in der Hauptrolle verfilmt und dadurch sehr bekannt geworden. Die Protagonistin entdeckt irgendwann eine unsichtbare und undurchdringliche Glaswand, die ihre Welt umgibt und bald ihr Leben bestimmt. Sie geht über eine Wiese und stößt plötzlich gegen diese Wand und kann nicht weiter, ist in der schönsten Landschaft aufs Engste eingeschlossen, hat ein Freiheitsgefühl, das durch diese Wand extrem eingeschränkt ist und bekommt es mit der Angst und Einsamkeit zu tun, weil sie diese Welt nicht versteht und von der übrigen Welt ausgesperrt ist.

Wie ganz anders ist die Welt der Vögel, sie fliegen durch die Luft und scheinen die Freiheit gleich bündelweise zu verschlingen, von so viel Luft und Grenzenlosigkeit umgeben, dass sie, beispielsweise die Mauersegler, manchmal fast nicht wissen, in welche Richtung sie denn nun flitzen sollen, so viele Möglichkeiten stehen überall offen.

Und doch gibt es auch in ihrem Leben diese Glaswand, keine Wunderwand und längst nicht so einengend wie die in Haushofers Roman, doch umso tödlicher! Die Protagonistin im Film hat schnell gelernt, ihre Bewegungen vorsichtiger zu gestalten, sie versteht die unsichtbare Wand zu erspüren. Somit ist die Wand physisch ungefährlich, nur die Seele und ihr eingeengter Lebensradius sind betroffen.

Anders die unsichtbare Wand, an der die Vögel zerschellen, im vollen Flug, im größten Glück. Da fliegt ein Buchfink mit großer Geschwindigkeit durch einen buntgrünen Garten und in diesem Garten steht ein Haus mit Fensterscheiben. Der Vogel sieht statt der Fensterscheibe die Verdoppelung des Gartens. Hinter dem Fenster sitzen Menschen am Tisch, essen oder lesen oder sonst was und hören das unnachahmlich schmerzvolle Geräusch, schießen von ihren Stühlen hoch, reißen das Fenster auf und sehen den mit Überschall von ihrer Fensterscheibe zurückgeprallten Vogel auf dem Boden vor der Hausmauer. Entweder durch Genickbruck sofort tot oder eine Weile auf dem Rücken liegend und sich dann auf die Füße werfend oder zitternd, aber sonst reglos kauernd, ein Häuflein Elend, dem niemand helfen kann außer vielleicht die Zeit.

Obwohl mir das Geräusch eines an einer Fensterscheibe zerschellenden Vogels jedesmal, wenn ich es höre, in die Tiefen meiner Seele fällt wie ein Stein, der viel zu schwer ist und schmerzt, bin ich bereit zu sagen, der Tod dieses Vogels ist ein so blitzartiges Geschehen, dass kein Schatten zurückbleibt – über dem Lebenspartner oder den hungernden Kinderchen in sicherem Nest mag sich ein Schatten ausbreiten, aber nicht beim verunglückten Vogel.

Beim Tod von Dean Potter sind wir, jedenfalls wir Ex-Extremsportler, durchaus geneigt, ebenfalls von einem schönen Tod zu sprechen, hätte doch kein Tod so gut auf Dean gepasst wie der, den er erflog, denn er flog auf eine Felswand zu, die ein Loch hatte, wollte straks durch dieses Loch hindurchfliegen und verpasste es und raste mit Fallgeschwindigkeit in die das Loch umgebende Granitwand, sein hinter ihm fliegender junger Freund genauso. Ein Tod, nicht unähnlich dem Flug in die Glaswand eines Vogels, nur mit mehr Bewusstsein. Und im Schatten hinter der Wand die Freundinnen der beiden Wingsuitpuristen, wie sie vergebens auf ihre Helden warteten.