Freiflug

Wie weit es mit der Freiheit der Vögel sei und inwieweit sie sich gegenseitig engmaschig kontrollieren, überlasse ich den Vogelkundlern zur Beurteilung. Dennoch, ich nehme an, dass das Leben der Vögel, wie das der meisten anderen Tiere, wenig von der Freiheit bestimmt sei.

Gestern hörte ich durch die offenen Fenster den schmetternden Gesang einer Mönchgrasmücke ins Haus dringen und wurde schier erschlagen von so viel froher Botschaft. Ich dachte: Ach du kleiner fröhlicher Vogel, der du dir wie am ersten Tag der Schöpfung deine glückliche Seele aus dem Bauch schreist, was bist du doch für ein Lebenskünstler. Jede Mönchgrasmücke ein Caruso oder eine Maria Callas. In jedem Augenblick, gleich ob die Sonne scheint oder kalter Regen fällt, gleich ob Bäuchlein voll oder kurz vor dem Tod. Wie schaffen Tiere diese Leistung permanenter Daseinsbekundung, wo sie doch wie wir dem Geschick und Missgeschick des Lebens unterstellt sind?!

Die Antwort ist einfach: Sie sind eben gerade nicht wie wir dem Alltagsleben unterstellt. Unsere Sorgen beginnen ja bekanntlich schon mit dem Aufstehen, da geben sich Zipperlein und unfreie Gefühle ein Stelldichein. Belastete Gefühle. Da liegt der Hund begraben. Von Tieren wissen wir, dass sie Belastungen abschüttlern. Sie gehen in ein Zittern über, das ihren ganzen Leib erfasst, und schütteln sich so lange, bis der Schreck vorüber ist.

In der Traumaforschung wurde das Traumazittern entwickelt. Dazu gibt es verschiedene gut erprobte therapeutische Modelle. ALLE MENSCHEN haben Entwicklungstraumata, situative Traumata, durch Eltern und Familien und Vorfahren vererbte Traumata, wir alle sind belastet und stigmatisiert. Da vergeht einem das fröhliche Singen. Den allermeisten Menschen ist die Leichtigkeit so gründlich vergangen, dass sie nur noch eine unerklärliche Schwere vor sich her schieben und hinter sich her schleppen.

Während ich so über uns Menschen nachdachte, sang die Mönchgrasmücke immer weiter und ich empfand große Freude an ihr. Ihr macht es richtig, ihr schüttelt alles Schwere ab, lebt bescheiden und vorsichtig und habt jeden Tag stundenlang Zeit fürs Fliegen, Tanzen, Singen, Frohsein.

Ich ging auf die Terrasse hinaus und versetzte meinen Körper in ein Traumazittern, zehn Minuten lang, umarmte meine vielen Truamata und sagte ihnen, ja, es gibt euch und ihr seid ein Teil meines Lebens, aber gegen einen solchen Vogel, wie er gerade im Garten singt, kommt ihr nicht an und ich schüttle mich jetzt so lange, bis mich ein Strahl vom Glanz dieser Mönchgrasmücke trifft. Der Rest ist dann Freude und Jubilieren.

Einen schönnen Sommertag wünscht herzlich