Die ‹Chinesisierung der Welt› kommt von innen

Hier in Kassel scheint eine Art freiwilliger Chinesisierung den Alltags zu druchdringen. Bücher wie das von Kai Strittmatter über China* suggerieren, dass ganz China unter einer Diktatur der Überwachung lebe. Das wird so nicht stimmen, selbstverständlich nicht, denn welcher Kosmos vereinigt so viele Formen des Zusammenlebens wie dieser Gigant im Osten!? Das Thema der Überwachung und des angepassten Lebens wird in Städten Chinas seine Präsenz haben und die persönliche Freiheit der einzelnen kanalisieren und einschränken, ja teilweise unterbinden, doch das ist nicht die ganze Wahrheit über dieses sowohl in seiner Ausdehnung als auch in seinem vertikalen Aufwurf einmalige Land.

Die Bevölkerung Deutschlands galt und gilt als subversiv und widerständig. Ob Impfen, Digitalisierung, Abschaffung von Bargeld oder gläserne Krankenkassenmitgliedschaft, die Deutschen sind unberechenbar, sagt man, wenig fortschrittsgläubig, sie protestieren, wo andere Nationen einfach gehorchen und die von oben verordneten Dinge über sich ergehen lassen. Eine Art demokratischer Selbständigkeit und Selbstsicherheit zeichnet die Deutschen aus, so heißt es wenigstens.

Das ist Geschichte, zumindest in Kassel. Auf dem Bebelplatz gibt es die Bäckerei Thiele. Am Schaufenster neben dem Eingang steht: «Nur fünf Kunden gleichzeitig im Laden.» – Auch dieser Zettel ist, nachdem die Maßnahmen aufgehoben wurden, Geschichte, er müsste da nicht mehr hängen. Aber er hing schon so lange, dass er nun eben bleibt. Das ist ein Problem. Noch größer aber ist das folgende Problem: Kürzlich standen zwei Kunden im Laden, vier standen davor, alle ‹bewaffnet› mit Masken, auch die in Reihe Anstehenden draußen, vom eigenen, restlos verinnerlichten Ordnungs- oder Vorsichtsmaßnahmensinn zum Maskentragen verurteilt.

Das nenne ich ‹Chinesisierung der Welt›. Sie hat wenig mit dem alten Land der Mitte zu tun als vielmehr mit einer allgemeinen menschlich-allzumenschlichen Trägheit, einem aus dem Inneren mobilisierten individuellen Misstrauen, das sich mit Lust und Berechnung von allen Menschen fernhält.

Im Untertitel von Strittmatters Buch ist vom Überwachungsstaat die Rede, der in China reaisiert werde und unsere freiheitliche westliche Welt bedrohe. Wenn ich beobachte, wie hier vor der Bäckerei am Bebelplatz der bescheidene Kude seine Brötchen ins Trockene bringt, indem er sich umstandslos in die Linie der Überwachung und des Gehorsams einreiht, habe ich allen Grund, vom Schreckgespenst China, das uns gern eingetrichtert wird, abzusehen und die Bereitschaft, sich die Diktatur nicht nur aufdrängen zu lassen, sondern zu ihrer Neuinstallierung freudig einen Beitrag zu leisten, wo immer dies möglich ist, und sei es bei Bäcker Thiele um die Ecke.

Gruß  

  • Kai Strittmatter, Die Neuerfindung der DIKTATUR. Wie CHINA den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert, Piper Verlag, München 2019 (sechste Auflage)