Der Inzidenzwert von Unworten

Nicht dass ich ein Freund des sperrigen Wortkonglomerats ‹Eigenverantwortung› wäre, das unschöne Wort ist ja gar kein eigentlicher Begriff. Für mich genügt das einfachere Wort ‹Verantwortung›, denn Verantwortung hat immer mit mir und meinem Eigenen zu tun. Insofern ist ‹Eigenverantwortung› ein weißer Schimmel oder ein Pleonasmus.

Als ich nun aber hörte, dass das Netzprojekt Floskelwolke dem Wort ‹Eigenverantwortung› den Negativpreis «Floskel des Jahres» gegeben habe, und vor allem als ich die Begründung der Jury erfuhr, wurde ich stutzig. ‹Eigenverantwortung› sei ein legitimer Begriff von hoher gesellschaftlicher Bedeutung, sagte die Jury, und dieser Begriff dürfe nicht von Impfgegnerinnen und Impfgegnern als Rechtfertigung für ihren Egoismus gekapert werden.

Die Logik der Journalistinnen und Journalisten, die diesen Preis vergeben haben, geben also einer Überzeugung Ausdruck, die alle Menschen, die nicht den Richtlinien des Staates folgen, Eigenverantwortung absprechen und als Staatsfeinde betrachten.

Das klingt nach Kommunismus und anderen rigoristischen, dein Einzelnen als Gefahr denunzierenden Staatsformen, die ihre Bürger jeglicher Verantwortung berauben, zumindest halte ich das für eine mögliche Leseart, was die Vergabe der diesjährigen «Floskel des Jahres» betrifft.

Wie würde die Welt heute aussehen, wenn sich damals alle Menschen gegen Contergan hätten impfen lassen, nur weil der Staat das befohlen hätte. Ich wäre vielleicht ein Mensch ohne ausgeblidete Arme und Beine – und mit mir Millionen. Das hätte die Gesellschaft noch viel sichtbarer und nachhaltiger verändert als es zur Zeit die Maßnahmen gegen die verflixte Coronapandemie tun. Doch damals kam niemand auf eine solche Idee. Das sieht heute etwas anders aus.

Ich erinnere mich an einen Radiobericht, den ich vor vielen Jahren gehört habe. Da hieß es, dass Deutschland im Ranking mit etwa fünfzig Staaten aus der ganzen Welt auf einem der letzten Plätze stehe, was gelebte Subsidiarität betreffe. Das heißt, dass es in diesem Land anscheinend trotz aller demokratischen Errungenschaften schon immer eine starke Tendenz gab, seinen Bürgerinnen und Bürgern jegliche Eigenverantwortung nicht nur einzuschränken, sondern einfach abzusprechen, beziehungsweise auszutreiben.

Zum Glück gibt es gegen solche antidemokratischen Attitüde noch immer viele Menschen mit Eigenverantwortung. Sie sollten den bemühten, aber anscheinend ach so staatsgläubigen Journalistinnen und Journalisten bei ihren Juryentscheidungen in einem Jahr auf die Sprünge helfen.