Beim Reden über traumatisierte Tiere lohnt es sich zu differenzieren. In freier Wildbahn gibt es vermutlich gar keine traumatisierten Tiere. Also Vorsicht. Ich behaupte nicht, dass Tiere keine Traumaerlebnisse haben, aber sie schütteln das Erlebte ab, wie die moderne Traumaforschung herausgefunden hat. Wenn ein Kaninchen, das im Totstellreflex vor der riesigen Schlange auf sein Ende gewartet hat, feststellt, dass es gar nicht gefressen worden ist, beginnt es sich ausgiebig zu schütteln, bis es wieder das Kaninchen ist, das es vor diesem schrecklichen Erlebnis war. Das gleiche gilt für Gazellen, die von Raubkatzen gefangen, aber nicht gerissen wurden und so weiter durch das ganze Tierreich bis hinauf oder hinunter zu den Haustieren – bei ihnen tickt die Uhr etwas anders.
Ein Besuch von fünf Minuten in einem Tierheim genügt und wir wissen Bescheid über das Elend, das manche Hunde und Katzen und andere Tiere mit ihren Besitzern auszustehen hattten, manchmal über viele Jahre. So sind denn Tiere aus dem Tierheim oft unberechenbar und sollten, bis sie anderes gelernt haben, vor der Begegnung mit Kindern zurückgehalten werden. Sie zeigen Verhaltensmuster wie Menschen, die aus schwierigen sozialen Verhältnissen stammen und das, was wir menschliches Verhalten oder Mitmenschlichkeit nennen, abtrainiert bekommen haben. Haustiere werden deshalb in der Zoologie doch eher den Menschen als den Tieren zugeordnet, zumindest was ihr psychologisches Kleid betrifft. Bei Wildtieren ist das alles ganz anders und da von Trauma zu sprechen ist nicht zielführend.
Viel passender ist ein großes Staunen. Ich denke, nicht nur die Bäume und die Gesteinsschichten rund um die Erde, sondern auch und vor allem die Tiere wissen, wo der Zeiger der Gefahr steht, nämlich auf einer Minute vor zwölf. Dennoch erhebt sich jeder neue Morgen mit einem großartigen Vogelkonzert, wobei wir uns, wenn wir von Vogelkonzerten sprechen, nicht eine Symphonie der Tausend, mit der Gustav Mahler berühmt geworden ist, vorzustellen haben, sondern eine Symphonie der Symphonien und noch eins obendrauf! Und jeder einzelne kleine Teilnehmer dieser Metasymphonie, jeder kleine Vogel, singt aus voller Kehle. Jeden Morgen. Wie am ersten Tag. Und dies im Wissen um die Not auf unserem Planeten und um die sie stündlich umwitternden Gefahren.
Ein bisschen in Tiernähe kommen wir, wenn wir den Morgen mit einem Traumaschütteln beginnen. Das ordnet, stärkt, macht gute Laune, verlockt zu Übermut und Gesang und zum Vergessen im besten Sinne.
Einfach mal ausprobieren, herzlich