Mit unserer Nachbarin in die Talkshows!

Leider macht sie das nicht mehr, unsere 104-jährige Nachbarin, das mit den Talkshows. Hat sie auch noch nie gemacht. Sie ging letzten Sommer auf ihre fünfzehnte von insgesamt fünfzehn documentas. Ließ sich im Rollstuhl über die verschiedenen Stationen chauffieren, eine hellwache, an allem interessierte Frau. Das schon – aber Talkshows? Eher nicht mehr 🙏.

Sie kam gestern rüber zu uns ins Wohnzimmer auf einen Grüntee. Oh, was hat sie für eine klare Stimme! Und genauso klare Gedanken und Worte: «Wer den Krieg erlebt hat, verwirft jeden Gedanken an Waffenlieferungen!» Das sagte sie mit einer Sicherheit und Ruhe, als säße Platon vor uns und würde sagen, er denke die Idee des Guten nicht nur, sondern er sehe sie und könne sie mit Händen greifen

«Als ich Mitte zwanzig war, waren bereits mehr als die Hälfte der jungen Männer tot.» Das war 1943, da war sie 25. Millionen junge Männer tot. In Russland waren damals so viele junge Männer tot, dass noch etwa eine Million ganz junger Frauen an die Front ging.

Wieso so junge Menschen?! Wieso sie erst dermaßen kirre machen, dass sie danach begeistert in den Krieg rennen, in ihren fast 100% sicheren Tod?! Wieso gehen nicht die Menschen an die Front, die andere Menschen dazu zwingen?

Es gibt viele Fragen, und keine gescheiten Antworten – doch ich wünschte, gestern wäre das Fernsehen bei uns im Wohnzimmer gewesen und hätte die einfachen Worte unserer auch nur ansatzweise naiven Nachbarin ausgestrahlt, in der Tagesschau, als Mitschnitt auf Talkshows. Herr Lanz wäre, ich bin sicher, bewegt gewesen.

Ich jedenfalls war es, herzlich