Verstehe

Bei mir dauerte es eine Weile, bis ich anfing Politiker zu verstehen. Manche Berufe offenbaren ihr Wesen nur indirekt. Das ist nicht nur bei Politikern so, sondern etwa auch beim Flugzeugpilot. Piloten haben bei mir ein anderes Image bekommen, nachdem ein Freund einmal lachend meinte, Piloten seien auch nur Chauffeure, genau wie die Taxifahrer.

Politiker sind so etwas wie Versicherungsmakler. Sie verbreiten Angst und verkaufen uns teure Versicherungen. Je mehr Versicherungspakete sie verhökern, umso glücklicher sind sie und umso erfolgreicher fühlen sie sich in ihrem Tun. Um auch die Angstfreien einzuschüchtern, holen sie sich Spezialisten an die Seite, Wissenschaftler genannt. Diese traktieren uns mit Statistiken und Hochrechnungen, bis die meisten von uns einknicken.

Einen Unterschied allerdings scheint es zu geben zwischen Versicherungsmaklern und Politikern. Im Gegensatz zu den meisten Versicherern wirken die meisten Politiker mutig und selbstbewusst. Sie sehen aus, als würden sie absolut kraftvoll im Leben stehen. Deshalb werden sie ja auch gewählt: starkes Rückgrat möge unsre Rücken stärken. Soweit die zugrunde liegende Idee. Doch wer genauer hinschaut, kann erkennen, dass das vermeintliche Rückgrat eine Fassade ist, ähnlich wie die Krawatte und das schicke Jackett von Versicherungsmenschen, die an der Haustür klingeln. Kunden lassen sich von Kleidern genauso beeindrucken wie Wähler sich vom Stammtischgehabe eines bayerischen Politikers überwältigen lassen.

Wo Politiker Zahlen über den Tisch schieben, regiert die Angst. Wir sollen dann einfach nur ja sagen, wenn sie versprechen, unsere (ihre?) Angst durch Versicherungen zu verbannen. Um so umfangreiche Versicherungspakete wie Aufrüstung zu verkaufen, muss zuvor entsprechend viel Angst in unsere statistikanfälligen Hirne geträufelt werden – und es muss, wie einst auf den Galeeren, wenn sie zum Angriff übergingen, die Taktzahl der Schläge erhöht und das Herz der Beteiligten zum Rasen gebracht werden. Das alles ist für Politiker*innen nicht ganz leicht, aber es funktioniert.

Exkurs: Die besten Versicherungsmakler*innen und Politiker*innen sind übrigens die, welche mit Milchmädchenrechnungen operieren. Anders als ein vielschwätzender Makler, der schnell Antipathien gegen sich mobilisiert, werden Milchmädchen-Versicherungsmakler*innen in dem Augenblick moralisch, wo ihnen der Glaube an ihre eigenen Worte fehlt. Funktioniert erstaunlich gut. Milchmädchen-Versicherungsmakler*innen-Politiker*innen wissen, wie sie uns angucken müssen, damit unsere Herzen höher schlagen. Sie verachten den Stil der männlichen Rede (was nicht heißt, dass sie nicht männlich denken) und kleiden sich wie mein Lieblingsonkel oder, in unserem Fall, wie meine liebe Mama aus der Kindheit oder der heilige Nikolaus, der uns Süßigkeiten auf die Füße schüttet (by the way: das ursprüngliche Kleid von Nikolaus war blau). Dieses Geschäftsmodell greift supergut, und zwar nach dem Reflex «Du hast Angst? Komm, schlupf unter meine Schürze, dann passiert Dir nichts».

Auch wenn ich beobachtet habe, dass ich bei mir selbst diesen Reflex (Sicherheit unter dem Mamarock) kenne, bin ich froh, dass die Regierungsform der schützenden Mama vorüber ist. Allerdings flattert mein Herz bei der neuen Regierungsform unruhig weiterhin in alle Richtungen. Ich habe mich noch nie wohl gefühlt, wenn mir Leute Angst zu machen versuchten und Versicherungen verkaufen wollten.