Vorhang auf

Was alles hinter dem Vorhang auf Enthüllung wartet, darüber ist viel gedacht und geschrieben worden. Die alten Ägypter hatten ihre Schleier und Vorhänge, um geheimes Wissen vor dem Volk zu verwahren. Auch die Griechen und seither viele kleine und große Völker und Ethnien rund um die Erde haben auf verschiedene Weise daran herumgemacht, wieviel von diesem Schleier des geheimen Wissens gelüftet werden darf und wo geschwiegen werden müsse.

Bei jedem individuellen Gedanken, den ich fasse oder zu fassen versuche, stehe ich vor der Frage: Kann ich den Gedanken, der sich vielleicht nur als zarte Frage in mir meldet, in Worte binden, die ich selbst verstehe und die andere verstehen könnten? Das ist die Not und Freude des Denkens, diese Lebens- und Sterbeprozesse, dieses permanente Geschehen zwischen Gelingen und Versagen.

In den letzten über zwei Wochen habe ich, was die Tagesgedanken betrifft, ver-sagt, denn ich habe nichts gesagt, nichts geschrieben und recht wenig gedacht in dieser Zeit. Wenig – oder anders.

Was aber sind Gedanken? Was sind mit die Tagesgedanken?

Es sind meine Versuche, die Welt zu verstehen. Und es ist der Versuch, in einer Zeit, wo mir die Galle überläuft und in meinem Inneren die Streitlust der Seele Funken schlägt, nicht mit Intellektualität und Besserwissen zu zundeln. Wie gerne würde ich mit scharfen Worten draufhauen in dieser Zeit galoppierender Gedankenkurzatmigkeit und jener in alle Ritzen der Gehirne vordringenden rundum beschämenden Dummheit eines Behauptungsjargons, der sich mit Mist und Gülle nährt und daherkommt, als würde Platon von den drei Urideen der Menschheit sprechen. 

Meine Gereiztheit beginnt beim Gespräch am Gartenzaun, geht beim Einkaufen weiter, sie erstreckt sich über den Großteil der Medien, der Kulturwelt, über fast sämtliche Gebiete der Wissenschaft und gipfelt in der Politik und ihrem Schatten, den Talkshows. Wie da schweigen? Wie da ein Leben führen, das sich im Verborgenen abspielt? Warum sol ich länger all die drängenden Worte verschweigen, die dringend gesagt werden müssten?! 

Mein Denken: eine Versuchsstation. Das will ich mir bei jedem Wort hinter die Ohren schreiben: Ich bin denkend und Wörter aneinanderreihend in einer Versuchssituation, wie der Koch oder die Köchin beim Austüfteln neuer Rezepte. Die Versuche haben bei mir in den letzten zwei Wochen auf Tauchstation geruht. Da zog tief im Ozean meiner vielen nicht gedachten Gedanken, wie ich da so dreitausend Meter unter der Wasseroberfläche in meiner Tauchglocke durch Gedankenmeere schwebte, ein Pottwal vorbei, langsam, unter der Last eines schweren Gewichts und im Zustand einer Atemerschöpfung fast implodierend. Er hatte oben an der weit entfernten Luft Atem geholt, dann war er dreitausend Meter in die Tiefe getaucht, ohne einmal Luft zu holen, war schnell in die Finsternis vorgedrungen, wo ein Zehntönner von Krake im dunklen Wasser einem Gegner wie ihm auflauerte. Der Krake saugte sich am Pottwal fest, das alles geschah direkt vor meinen Augen. Da ließ sich der kluge, massige und kleinäugige Wal hinterthältig nach oben treiben. Für den Kraken ging es zu schnell. Der Pottwal wusste das. Dem Kraken wurde schwindelig. Ein solcher Krake ist mit dem Druckausgleich überfordert, wenn er zu schnell nach oben steigt, deshalb die Schwindelattacke.

Als der Pottwal schleunigst mehrere hundert Meter aufgestiegen war, verlor der Krake endgültig das Bewusstsein und sein Würgegriff wich einer erdenschweren Schlappheit in den Tentakeln. Der mächtige Krake wurde ein Opfer jener dreimal mächtigeren und intelligenteren Tiers, das er bis vor kurzem noch fest im Griff hatte. Für den Pottwal, der mit seiner Beute bis unter die Wasseroberfläche aufstieg, wurde der Krake zum Festschmaus, den er genüsslich verschlang.

Denken ist Tauchen, lebensgefährlich und tricky wie das Leben von Kraken und Pottwalen.

Herzlich