Wie gründlich Gründlichkeit danebengehen kann

Gegen Gründlichkeit ist nichts einzuwenden, finde ich. Doch im Augenblick fühle ich mich ob der Gründlichkeit, mit der heute Geschichte betrieben wird, restlos ohnmächtig. Zwischen dem hundertsten Geburtstag von Sophie Scholl vorgestern (* 9. Mai 1921) und dem hundertsten Geburtstag von Beuys morgen (* 12. Mai 1921) ist Stunk angesagt.

Es tut mir richtig weh, wie gründlich manchen Deutschen von manchen Deutschen ihre deutsche Vergangenheit um die Ohren geschlagen wird.

Kann nicht jeder Mensch mit Leichtigkeit im Gesicht des Kriegsheimkehrers Joseph Beuys sehen, durch was für Höllen er gegangen sein muss. Und lässt uns die Vorstellung, Freisler habe in einem Schnellverfahren der einundzwanzigjährigen Sophie Scholl der Kopf vom Rumpf trennen lassen, nicht das Blut in den Adern gerinnen?

Anscheinend nicht, denn die Jubilare werden durch den Kakao gezogen. Der dumme Joseph habe an der Hitlerjugend Spaß gehabt, sagen sie, und die dumme Sophie am Bund Deutscher Mädel. Ein solcher Eintrag in die eigene Biografie genügt, um den großen Rest einer Persönlichkeiten auf den Index zu setzen.

Obwohl es da eigentlich nichts zu staunen gibt, sage ich in solchen Fällen: «Ich staune». Fürbass ja – ich kann nur staunen! Staunen über so viel deutsche politische Korrektheit. Solange ich über solche Dinge staune, geht es mir noch am besten, da muss ich nicht mein Rechtsempfinden hochfahren und kann den gesunden Menschenverstand wie einen liebenden Schäferhund an der Kette ruhen lassen. Ich tue dann sozusagen ‹nur› staunen, wenn auch mit Trauer in der Seele.

Herzlich