An die siebzig

In Tagen wie diesen gehen in unserem Garten jeden Abend an die siebzig Nachtkerzen auf. Sie grüßen frisch und unaufdringlich den Himmel über uns. Und sie leuchten in die Nacht – und in unsere Augen, wenn wir dem Schauspiel zusehen. Auch in die Seelen.

Kürzlich brachte uns eine Nachbarin einen Blumenstrauß aus ihrem Garten. Streng violett gehaltene Augenfreude. Sie möge keine gelben Blumen, sagte sie, die Farbe des schönen Straußes rechtfertigend. Da sich Nachtkerzen mit Leichtigkeit verbreiten, müssten sie auch den Weg in ihren Garten gefunden haben. Vielleicht reißt die Nachbarin sie aus, wenn sie ihr in ihrem Garten ohne gelbe Blumen begegnen.

Mit dem Gelb der Nachtkerzen gibt es keine Kompromisse, es ist so gelb und rein und sauber wie am dritten Schöpfungstag, als Gott auf die Idee mit diesen nachtedlen Geschöpfen kam. Kaum ist die Sonne untergegangen, gehen wie gesagt allabendlich etwa siebzig kleine Sonnen auf, manchmal macht es in Auge buchstäblich ‹pling›, so auf einen Schlag sind die vier Blätter der Blüte ausgerollt. Obwohl es zu dunkeln angefangen hat, wenn sie ihre stille Nachtpracht entfalten, warten Bienen auf dieses ‹Pling› und torkeln sofort in die offen gewordene Blüte, ein jungfräuliches Geschehen. Ein Nachtkerzenbusch ist ein Freudenhaus, wie es sonst keines gibt. Auf allen Etagen erfreuen sich Bienen ihrer letzten Lust, bevor sie glücklich und schwer mit Säften beladen, nach Hause gehen und in den Nachtschlaf versinken.

Und Berenike und ich schauen dem abseitigen Treiben zu. Schon ein Gespräch kann genügen und du verpasst das Aufgehen der Nachtkerzen, selbst wenn du dich eigens wegen ihnen in den Garten und vor sie gesetzt hast. So still und schnell und ohne Aufhebens geht das reihenweise und wie auf Knopfdruck einsetzende Geschehen vor sich. Und während du nach einiger Übung mit großer Sicherheit voraussagen kannst, welche Blüte als nächste erscheint und auf das spitz eingerollte Wunder unter der dünnen, bräunlichen Schutzhaut starrst, platzt direkt daneben doch nicht etwas schneller eine andere Blüte in die werdende Nacht.

Dann gehen wir ins Haus, die erhellte Nacht bleibt allein zurück und leuchtet bis der nächste Morgen beginnt.

Gruß