Wo waren die Steckdosen?

  

Chinesischer Bauernjunge und der chinesische Filmemacher Wang Bing

Bei der letzten documenta in Kassel war Wang Bing ein Highlight für mich. Ich schaute mir alle seine Filme an. Ein Film von ihm handelte von drei Mädchen, die in einem kleinen Weiler in weit über 3000 Metern Höhe lebten. Jahraus jahrein notabene. Mutter gab es keine, der junge Vater war die meiste Zeit weit entfernt, ohne Kontakt irgendwo im Flachland Chinas, in der Ferne, wo er etwas Geld verdiente. Die Mädchen fielen den Bauern, auch wenn alle miteinander verwandt waren, zur Last und wurden entsprechend schlecht behandelt. Sie wurden ausgestoßen, beschimpft, zur Arbeit gedrängt, niemand hatte ein liebes Wort für sie übrig.

Eines Tage kam der Vater zurück, mit einer neuen Frau und ihrem kleinen Jungen. Seither wurden die drei Mädchen und am allemeisten das kleine von ihnen, es war etwa vier Jahre alt und gleich alt wie der mitgebrachte Junge, von der Stiefmutter schlecht behandelt, das heißt sie wurden nun innerhalb der Familie selbst beschimpft, geschlagen, weggeschubst, ausgegrenzt (während die Mutter den kleinen Jungen hätschelte und beim Essen bevorzugt). Das ältere der drei Mädchen übernahm die Rolle der Mutter der zwei jüngeren Schwestern, es war vielleicht acht Jahre alt und hatte während des ganzen Films einen Husten und eine triefende Nase.

Einmal machten die Bauern dieses kleinen Bergdorfs am Berghang einen Ausflug zu einem anderen Bergdorf an einem anderen Berghang, da lebten andere Bergbauern, doch die Lebensbedingungen waren die gleichen. Die Ausflügler statteten ihnen einen Besuch ab, einfach so zur Freude, die drei Mädchen mussten mit, hatten dort allerdings nichts zu tun und auch keinen Anschluss. Es gab ein Fest am Abend, Essen und Zusammensitzen in einer fensterlosen, windingen Kate. Ganz hinten im dunklen Raum auf einem Bett fläzten fünf oder sechs Jugendliche. Ihre Gesichter waren eigenartig hell mit farbigem Licht verstellt. Sie starrten vor sich hin. Das alles passte nicht zum Film, dessen Bilder sonst wie aus dem Mittelalter waren, wo es noch keine Maschinen und kein Kunstlicht gab. Die Jugendlichen glotzten auf ihre Handys, jeder für sich, doch alle beisammen auf diesem Bett.

Wie? Was war das? Wo hatten die den Strom her? Was sahen die da? Hatten die etwa Empfang? – Die Szene war absurd, vermutlich deshalb habe ich den Film nicht vergessen. Nicht dass der Eindruck vorgeherrscht hätte, dass die jungen Menschen am Ende der chinesischen Welt vom Handy bestimmt gewesen wären oder kontrolliert oder mit irgendetwas beauftragt, dafür waren sie viel viel zu weit von jeglicher Überwachungsmöglichkeit entfernt, aber sie hatten Handys und Interesse an den Displays und sie hatten Strom, woher auch immer. Das erstaunte mich, denn Fenster hatten sie beispielsweise keine, die drei Mädchen mussten in dieser Höhe in feuchten Kleidern in feuchte Betten. Durch die Räume fegte der Wind und der Rauch, den das Feuer im Raum nebenan machte, wo zwei Männer über ebenfalls feuchten Holzscheiten ins mickrige Feuer bliesen.

Diese Szene mit den Handys und dann natürlich die Tatsache, dass Wang Bing sehr lange Einblendungen ohne jeden Schnitt mit der Ruhe eines gleichsam göttlichen Wesens filmte, diese beiden Sachen sind mir geblieben, wobei mir während des Schreibens nun ganz viele Dinge wieder einfallen.

Gruß