Finger im Tee

In seinem Roman Die Eiswand schildert der japanische Schriftsteller Yasushi Inoue in einer kleinen Nebenepisode, wie die schöne Frau des Wissenschaftlers ihrem Gatten Tee serviert. Sie beobachtet, wie er in die Tasse schaut, zögert und ihr den Tee zurückgibt. Hat er mitbekommen, dass sie, kurz bevor sie ihm den Tee reichte, mit zwei Fingern kurz ins Teewasser langte, um ein kleines Blättchen rauszufischen, das obenauf schwamm? Er konnte es nicht gesehen haben, doch irgendwie hatte er es dennoch mitbekommen, und dies ohne am Tee gerochen zu haben. Mir ist die Szene als Sinnbild dieser Ehe in Erinnerung geblieben, in der schon ein solcher Vorfall in die tiefsten Abgründe des Hasses und der Beschuldigungen führen konnte.

Auf der vorvorletzten documenta wälzte ich mich mit der Zuschauermasse durch die Kunsträume neben dem Hauptbahnhof. Ich fühlte mich wie das Teilchen eines Wurstinhalts, der durch einen engen Schlauch gepresst wurde. Es ging an einer vier Meter langen Ausstellungswand entlang, an dieser Wand lief auf Augenhöhe eine Fotografie mit, auf dem Bild war eine hohe Mauer in einer südafrikanischen Stadt zur Zeit der Apartheit abgebildet: Links von der Steinmauer lag ein unendlich großzügig angelegter, bestens gepflegter Golfplatz, der bis an die Mauer reichte, es waren kaum Menschen zu sehen und überall prangte sattes, gepflegtes, vollsaftiges, ein wunderschönes Grün. Rechts der Mauer und ebenfalls bis ganz an die Mauer heran ein riesiger Slum mit tausenden von Menschen, auf einer Müllhalde siedelnd.

Dazu zwei Fragen:

Wann ist Beziehungsleben mehr als das kultiviert-allzukultivierte Miteinander der schönen Ehefrau mit ihrem Tee trinkenden Wissenschaftler?

Wie kann ich ein gutes Leben führen, wo mein physischer Anteil ganz auf der Seite der Golfplatzprivilegierten dahinvegetiert, während meine Seele Sympathien und Herzensgrüße über die Mauer schickt?

Wer Antworten kennt, bitte melden, ich freue mich,

herzlich