Leben in Skalen

Wolfgang Güllich frei im Yosemite Valley

Als Extremkletterer war mir ein Leben in Skalen nicht fremd, ich liebte es, denn es ermöglichte jederzeit einen Leistungsabgleich mit anderen und das ist, wenn man selber einigermaßen Leistung bringt, ja nur angenehm. Ein angenehmes Relikt aus der Zeit als Jäger und Sammler, wo die Frauen, die sich immer mal wieder einen adretten Mann auf ihr Lager holten, durchaus achtgaben, ob ihr Liebhaber denn auch ein guter Jäger, Fischer, Früchtepflücker oder weiß was war.

Wir waren, als die klassische Alpenskala des Bergsteigens, das sich zwischen den Graden I und VI+ abgespielt hatte, nach oben erweitert wurde, mit bei den ersten, die in den sagenumwobenen Grad VII vorkletterten. Dann kam der Grad VIII und parallel dazu die vorläufige Schallgrenze IX. Du glaubst es nicht, ja ich glaubs selber fast nicht mehr, aber ich war noch im Yosemite mit Wolfgang Güllich im gleichen Amerikanerschlitten unterwegs vom Klettercamp zu den Routen. Der war uns allen nochmals eine kräftige Nasenlänge voraus und knackte die X und kratzte schon bald an der XI, die er auch meisterte und über die XI+ in Richtung des zwölften Grads, in welchem heute geklettert wird, hinter sich ließ.

Mit der Tatsache, dass es plötzlich noch eine Sächsische Skala der Elbsandsteinkletterer, eine französische und eine amerikanische Skala gab, wurde es für mich dann allerdings schwierig. Heute muss man jeden Tag klettern, um sich in den Nuancen dieser nur schwer aufeinander beziehbaren Skalen wirklich gut genug auszukennen. Da ich dies nicht mehr tue, seit ewigen Zeiten nicht mehr jeden Tag klettere, ist für mich das Leben zwischen verschiedenen Skalen weltfremd geworden.

Bis seit einiger Zeit nun wieder Skalen übereinander zusammenfallen und sich gegenseitig in ihrer Bedeutung übertreffen. Es macht auf den ersten Blick wenig Spaß, zwischen den Mobilnetzstandards 2G, 3G, 4G und 5G hin- und her zu lavieren, allein schon deshalb nicht, weil eine Riesenschere zwischen denen besteht, die behaupten, der Sprung von 4G auf 5G sei nur ein kleiner Entwicklungssprung in einem Verfahren, das wir in ganz ähnlicher Form schon nutzten, und den anderen, die voraussagen, dass uns mit 5G das Gehirn gegrillt werde wie in der Mikrowelle.

Ein bisschen besser, aber dann eben doch wieder nicht so ganz wirklich, kenne ich mich bei 2G und 3G aus, wenn es um die Frage geht, ob ich noch in die Sauna darf (seit 7 Jahren nicht mehr dortgewesen) oder meinen Kaffee drinnen im Café trinken darf oder draußen im Stehen schlürfen muss (jetzt bei dieser Kälte, Sauerei). Besonders spannend dürfte die Skala 2G+ werden, sie ist etwas ganz anderes als 3G, aber auch nicht mehr 2G, sondern eben 2G+. Das erinnert mich wirklich ans Klettern damals, da konnten wir allen Ernstes stunden-, tage- und jahrelang streiten, ob wir jetzt eine VII geklettert seien oder ob das VII+ oder vielleicht eben doch nur VII- gewesen sei. Davon hing für mich eine Zeit lang das ganze Glück meines Lebens ab.

Ganz ehrlich, 👍⛑