Orchester – Lampenfieber – Lampedusa

Heute bin ich auf besondere Weise traurig. Das Orchester des Hessischen Rundfunks hat heute ein Gastspiel vor unserer Haustür. Ich hätte mich gern in schöne Kleider geschmissen und wäre hin, auch deshalb und deshalb mit besonderer Freude, weil einer meiner Söhne im Orchester sitzt.

Der HR in der Alten Oper in Frankfurt

Ich habe mich nach den Zulassungsregeln erkundigt. Als ich «2G» las, brach ich sofort ab und schaltete meinen medialen Zugang zur Welt ab. Ich weiß nicht einmal, welche Stücke heute gegeben werden. Besser so, denn es tut weh, vor diesem Konzert weggesperrt zu sein, nur weil ich nicht geimpft bin. Tut gewissermaßen aus familientechnischen Gründen besonders weh, doch auch deshalb, weil ich mit meinem Denken nicht mehr hinterherkomme. Habe nämlich in den Nachrichten des Deutschlandfunks gehört, dass in Altenheimen Besucherkontakte neuerdings wieder nur noch mit aktuellen Coronatests möglich sind – denn, es seien trotz der durchgeimpften Bewohnerinnen und Bewohner so viele Krankheitsfälle in den Altenheimen aufgetreten, dass diese Maßnahme notwendig sei. Für meinen Verstand ist das ein öffentlich-offizielles Bekenntnis zum Sinn des Testens. Ich hätte mich heute ohne weiteres gerne testen lassen und wäre dann gerne ins Konzert gegangen.

Jetzt sitze ich zu Hause, während mein Sohn einige Straßen weiter Staatstheater musiziert. Nix Lampenfieber heute, das ist die Devise von oben. Schwer zu nehmen, wo ich diese Lampenfieberstimmung vor und während Konzerten so sehr liebe. Stattdessen ein borchertsches «Draußen vor der Tür», auch für mich. Bis jetzt waren es die anderen, jetzt gehöre ich mit dazu, werde sozial ausgegliedert und als unsozial beschimpft, obwohl ich seit dreißig Jahren Beiträge in die allgemeine Krankenkasse einzahle und mit dafür sorge, dass kranke Menschen würdig versorgt werden können.

Ein neues Lebensgefühl, draußen im Regen stehenzubleiben, mit Traurigkeit untermischt, einer neuen, etwas anderen Traurigkeit. Denn traurig war ich schon vorher, wenn ich so schöne Dinge erleben durfte wie ins Konzert gehen (z.Z. verboten für mich), Essengehen (z.Z. verboten für mich), Sauna (z.Z. verboten für mich), Theater (z.Z. verboten für mich), öffentlich ins Café sitzen (z.Z. verboten für mich). Warum schon vorher? Weil es Lampedusa gibt, Lampedusa als Sinnbild für Verhätnisse, in denen Menschen bis auf den Tod unerwünscht sind. Dieses Lampedusa gibt es schon lange , nicht erst seit einigen Monaten, nicht erst seit zwei Jahren. Das gibt es schon lange, bevor die Stadt Lampedusa zu diesem Sinnbild wurde.

Und auch deshalb sitzt das die Traurigkeit, weil es anscheinend keine Lösungen gibt. Weil anscheinend alles wichtiger ist als auf den gesunden Menschenverstand in uns zu hören. Stattdessen: Nur nicht einander zuhören, nur sich nicht in anderer Menschen Leben hineinempathisieren. «Nu-ur jetzt nicht weich werden, um Gottes Willen nicht weich werden», wie es in einem Lied von Brecht-Weill heißt.

Aber heute fühl‘ ich mich weich, seelisch weichgeklopft und rational ausgebremst. Nun, probier die Sache auszusitzen, sag‘ ich mir, und geh‘ bald schlafen. Sei nicht traurig! Bleib guter Dinge, es gibt so viel Schönes!

Das Konzert dauert nun schon eine halbe Stunde, während ich da sitze und schreibe. Ich weiß nicht, was der HR dem ausgewählten 2G-Publikum in Kassel heute für einen Ohrenschmaus bereitet. Ich weiß nur, dass mein Sohn mitspielt und dass er in einer versteckten Falte seiner tiefen, jungen Seele ebenfalls traurig ist.

So ist das im Moment, herzlich