Urgefühle

Im Jugoslawienkrieg, der 1991 begann, trafen friedliche Völker am Rande Europas in plötzlicher Kriegsstimmung aufeinander. Alle diese Völker verbanden historische Verbindungen direkt nach Europa, deshalb fühlte sich der Jugoslawienkrieg wie ein Krieg mitten in Europa an.

Reaktionen auf diesen Krieg waren Hass, Angst, Wut, Zorn, Häme, Zynismus, nicht nur dort, nein, genauso auch bei uns. Das sind alles Emotionen, die unsere Gedanken befallen, wenn wir von etwas bedrängt werden, das wir nicht kennen und nicht einschätzen und deshalb nicht fühlen, sondern nur kommentieren, mit Gedankenfetzen besetzen können.

Ganz anders Markus, der, wie wir damals, in München lebte und der uns jeden Tag neu über die Verhältnisse auf dem Balkan und in den Gegenden drumherum unterrichtete. Er hatte keine Emotionen, sondern ihn schmerzten die Urgefühle Liebe und Anteilnahme oder einfach Schmerz. Er kannte jedes der Kriegsvölker, kannte ihre Geschichte und ihre lange tradierte Verbundenheit mit dem Feind und mit Europa. Es war herzzerreißend, Markus zu erleben, wenn er kam und mit großen Augen erzählte, was da geschah. Ihm ging es wie einem Schafhirten, der ein Schaf nach dem anderen verliert und der bald nicht mehr weiß, was er noch behüten könnte. Markus tat alles weh, er trennte nicht in Täter und Opfer oder in gute Kriegsvölker und verruchte, er trennte nicht, auch hier war er wie ein Schäfer, dem seine schwarzen Schafe genauso lieb und gut sich wie die weißen.

Ich lernte damals am Leiden eines mit seinen Gefühlen verbundenen Menschen den Unterschied kennen, den manche Fachleute strikt einfordern zwischen unseren Emotionen und unseren Urgefühlen. Und es leuchtet mir ein, wenn diese Fachleute sagen, Emotionen seien nicht gefühlte Urgefühle.