Viriditas

Gestern im Buchenwald hinter dem Haus. Mann, beim Wort «Buchenwald» wird mir doppelt anders, einmal wegen dem KZ im Norden von Weimar (Thüringen), das kommt mir natürlich auch immer in den Sinn bei diesem Wort. Dann aber blüht gerade mal wieder der Buchenwald, der am Ende der Straße beginnt, wo wir wohnen in Kassel.

Eine Wucht von Grünheit oder Viriditas, eigentlich und laut der Erfinderin des Wortes, Hildegard von Bingen, die GRÜNKRAFT. «Kraft» heute erinnert an rohes Muskelspiel oder Schweinefutter, Kraftfutter. Das ist die Viriditas, die uns gestern im Wald empfing, gerade nicht, sie ist vielmehr lichtdurchwirkte Zartheit, Energie des Feinsten, unantastbar überall und durch alle Poren wirkend.

Am meisten haben mich die untersonnigen Standorte von tausenden von zart aufgeschossenen Ahornen, Eschen, Kastanien, Eichen und Buchen bewegt. Manchmal nur knöchelhoch aus dem Boden schauend, manchmal in Kniehöhe oder Hüfthöhe. Weiter werden sie in den nächsten Jahren nicht kommen, weil um sie herum schon überall etwas größer gewachsene Exemplare wild im Wald herumstehen. Für uns Menschen ist eine solch ausweglose Situation unerträglich, wir rangeln nuns alle gleichzeitig ans Licht. Die Pflanzen nicht, sie helfen sich gegenseitig, die kleinen erhalten Nahrung durch die Riesen neben ihnen, die ihnen zwar das Licht nehmen, das, was sie durch ihren Platz an der Sonne umsetzen, allerdings wiederum mit ihnen, den ganz kleinen dort unten in ihrem Schatten, genüsslich teilen.

Und so breitet der Wald zur Zeit vom Boden bis in die Baumkronen seinen Viriditas aus, ein Wechselbad des Interbeings, fern des darwinischen Überlebenskampfs, ein Vorbild für uns, die wir meinen, das Dasein im Schatten anderer sei eine Schande und lebensunwert. Das Gegenteil ist der Fall, wenn wir sehen, wie die Pflanzen mit dieser Situation umgehen.