Weiß

Ich lese laut vor am Bett einer alten Dame, die sich nicht mehr bewegen, jedoch glasklar denken kann, ähnlich wie Stephen Hawking, der britische theoretische Physiker. Die Dame ist Mathematikerin und bekannt für unerschütterbaren Überblick und trockene Sprüche.

Ich lese in einem Engelbuch. Als handle es sich um Models aus einem Modekatalog, werden da Engel und ihre Aufgabenbereiche und die Farben ihrer Kleider beschrieben. Dass nicht alle Engel die gleichen Aufgaben erfüllen, ist so bekannt wie die Tatsache, dass sie in verschiedene «Farben» «gekleidet» sind. Da unsere Sprache nicht für die Engel gemacht ist, müsste man so ziemlich alles, was man über Engel aussagt, in Gänsefüßchen setzen, denn unsere Begriffe stimmen für ihre Welt manchmal noch nicht einmal annäherungsweise.

Nun haben laut des Buches, das ich vorlese, Engel nicht nur verschiedene Farben, die sich manchmal zum Verwechseln ähnlich aussehen, nein, es gibt Engel in Weiß, deren Weiß sehr verschieden ist. Wie ich das lese, merke ich, wie mein Vorstellungsvermögen leerläuft. Ja wie jetzt: weiß oder doch nicht weiß? Gibt es Weiß und ein ganz anderes Weiß?

Ich schaue etwas hilflos vom Buch auf und suchte Augenkontakt.

«Na ja,» sagt meine Zuhörerin, «ist doch klar, dass Weiß nicht einfach Weiß ist. Schnee ist etwas anderes als Eiweiß.»

Das war die Eselsbrücke, die ich brauchte, um vergnügt weiterzulesen. Wie gut, wenn man Mathe studiert hat und nicht zum Beispiel Kunstgeschichte.